Ruhelose Geister der Vergangenheit ruft Gastautorin und novum Verlag #Wortwechsel Gewinnerin Dagmar Grosch-Rieck in einer unheimlichen Kurzgeschichte wach.

Zwei Mal im Jahr suchen im Rahmen unseres novum Verlag Wortwechsel Geschichtenwettbewerbs die besten Gedichte, Kurzgeschichten und Texte aller Genres von Autor*innen und allen, die es werden wollen. Im Winter 2022 haben wir zu einfallsreichen Beiträge zum Impulswort „Mitternachtskarussell“ aufgerufen. Mit einer unheimlichen Geschichte über die Geister der Vergangenheit hat uns Autorin Dagmar-Grosch Rieck überzeugt. Die Kurzgeschichte der Autorin finden Sie ab sofort in unserer neuen Anthologie novum #12, die eine Sammlung kurzweiliger, gefühlvoller Texte für jede Stimmung enthält. Doch auch hier am Blog wartet die Geschichte schon auf Sie, um für Gänsehaut und eine mit Nachdruck versehene Botschaft zu sorgen: Nie vergessen!

„Mitternachtskarussell“, von Dagmar Grosch-Rieck

Die Parkanlage des stillgelegten Kinderhospitals lag im schwachen Mondlicht . Es war gegen Mitternacht, als ein rostiges Quietschen durch die nächtliche Stille klang, und wenn man genau hinsah, konnte man einige zarte Körper erkennen, die in langen, wehenden, weißen Hemden ein altes Karussell in Bewegung setzten .

Am Rande des Klinikgeländes trat ein Mann aus seinem großzügig geschnittenen Bungalow auf die Terrasse. Innen hatte er das Gefühl zu ersticken. Die Kühle der Nacht würde ihm guttun. In diesen mondhellen Nächten machte sich immer eine Unruhe in ihm breit. Das Quietschen in seinem Kopf, welches tagsüber schon kaum erträglich war, raubte ihm in der Nacht den Schlaf.

Er atmete tief ein und ließ seinen Blick über die heruntergekommenen Baracken und die verwucherten Wege zwischen den einzelnen Klinikbauten schweifen . Das Zentrum bildete ein verfallender Spielplatz. Eine alte Schaukel bewegte sich leicht im Wind .

Ja, sie waren wieder da. Barfuß. Lautlos schoben sie das alte Karussell an, während weitere Kinder sich an dürren Händen festhielten und zu ihm hinüberschauten. Er meinte, ihre Blicke zu spüren, ohne ihre Gesichter erkennen zu können. Nur die Augenhöhlen schienen zu leuchten.

Er kannte diese feinen Gliedmaßen genau. Wie oft hatte er sie vermessen, auf Ausschläge untersucht, Injektionen unter ihre Haut gesetzt. Er hatte mit gummierten Handschuhen darübergestrichen. Festgestellt, wann sich Dellen nach fehlender Flüssigkeit bildeten. Ihre feinen Härchen hatten sich angesichts der Kälte in den Kellerräumen aufgestellt. Aber dies war ein Umstand, der irrelevant für seine Untersuchungen war.

Man ließ ihm die Kinder zuführen. Er wollte nicht wissen, woher sie stammten. Er sortierte sie nach Geschlecht, Alter und Größe. Statt Namen trugen sie Nummern und waren so einfacher zu katalogisieren.

Manchmal ärgerte er sich darüber, dass sie alle stark untergewichtig waren und somit seine Arbeit erschwerten. Irgendwann hatte er aufgehört, die Dosis der Medikamente vom Körpergewicht abhängig zu machen. Er ließ deshalb diesen Faktor aus dem Anamnesebogen streichen.

Die juckenden, fleckigen Rötungen und die hervorgerufenen Papeln gaben Aufschluss über die Häufigkeit und Intensität von Sonnenbestrahlung, künstlicher Lichtzufuhr oder Tage in vollkommener Dunkelheit, die seine Probanden durchliefen. War er doch selbst noch am Anfang seiner Studien, und gerade diese Kinder sabotierten seine Arbeit immer wieder mit Fieberschüben und Krampfanfällen, oder verstarben ohne Befund. Mehrfach hatte er auf sorgfältigere Auswahl gedrängt!

In den Untersuchungsräumen herrschte für sie Sprechverbot. Nur gelegentlich entfuhr einem Kind ein leises Wimmern in seinem Beisein. Was hätte es auch schon zu sprechen gegeben?

Erst wenn er die Klinik abends verließ, hörte er über die langen Flure und Gänge das Weinen und Schreien, welches er aber keinem der Kinder zuordnen konnte. Zur späten Stunde mischte sich dieses mit dem stereotypen, metallischen Klopfen an den Gitterbetten .

Aber seine Zuständigkeit endete vor seinen Forschungsräumen.

„Theo, wo bist du denn schon wieder?“ Er wurde aus seinen Gedanken gerissen.

Seine Frau legte sich ihre Stola enger um die Schultern, trat zu ihm auf die Terrasse und führte ihn zurück ins Wohnzimmer, das noch ganz im Stil der 60er-Jahre eingerichtet war. Sie schob die große Glasfront zu, verriegelte die Terrassentür und zog die schweren Vorhänge vor, deren Beschichtung das morgendliche Sonnenlicht nicht hineinlassen würden.

„Geh wieder schlafen!“, sagte sie. „Du solltest ausgeruht sein. Morgen musst du früh aufstehen. Du weißt doch noch, was morgen ist?“

Willenlos ließ er sich den alten Bademantel ausziehen, legte sich auf seine Seite des Bettes und starrte an die in völlige Dunkelheit getauchte Zimmerdecke.

Noch ein paar Stunden. Dann würde er aussagen müssen, sich endlich erklären können. Dann müssten sie doch einsehen, dass er nicht anders konnte. Dass er nur zum Zwecke der Wissenschaft, zum Nutzen aller und im Übrigen von höchster Stelle angeordnet, gehandelt hatte.

Er war sich sicher, dass die hinzugezogenen ärztlichen Gutachter seine Arbeit zu schätzen wussten. Hatte er ihnen doch großzügig alle noch vorhandenen Akten und Forschungsergebnisse seiner jahrelangen Bemühungen und Studien überlassen.

Das Quietschen im Kopf wurde wieder stärker. Einen Kollegen, eine hochdotierte Koryphäe auf seinem Gebiet, hatte er schon vor langer Zeit konsultiert. Organisch wäre alles in Ordnung. Wohl eine Art Tinnitus, mit dem er sich arrangieren müsste.

Und dann war es soweit: Der Saal war hell und geräumig. Vom Prozess war die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden. Trotzdem waren die Bänke im Gerichtsraum voll besetzt mit Journalisten, Gutachtern und Nebenklägern.

„Herr Professor Doktor Theodor Hasse. Sie sind angeklagt, als Leiter der Forschungsabteilung für polymorphe Lichtdermatose an der Treufels-Kinderklink in der Zeit von Mai 1943 bis Januar 1944 Versuchsreihen an mindestens 43 Kindern vorgenommen zu haben. Als Probanden dienten Ihnen Kinder, welche dem nahegelegenen KZ entstammten und speziell nach Ihren Vorstellungen ausgesucht wurden. Weiters wird Ihnen zur Last gelegt, als Chefarzt und Leiter der Treufels-Kinderklinik die Versuchsreihen ab 1949 bis – ja, bis wann eigentlich? – wieder aufgenommen zu haben. Ab 1949 kooperierten Sie mit einem katholischen Waisenheim, um Kinder – und vor allem Säuglinge – als neue Probanden zur Verfügung gestellt zu bekommen. Die Säuglinge sollten eigentlich zur Adoption freigegeben werden, die älteren Kinder hatten ihre Familien verloren oder wurden aus der Not heraus in Obhut gegeben.“

Während die Anklage verlesen wurde, reichte man Fotos aus den Akten der KZ-Kinder zu den Geschworenen weiter.

„Ich werde nun die Namen der Geschädigten einzeln verlesen.“ Ein leises Raunen ging durch den Saal. Bänke knarzten. Alle Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen. 
„Ihre Namen lauten: David – verstorben, Elisann – verstorben, Tabea – überlebend, Lea – verstorben, Malek – vermisst, …“

Namen. So viele Namen, zu denen er kein Gesicht, keinen Körper fand.

Aber heute sollten sie hier eine Identität erhalten.

Das Quietschen in seinem Kopf wurde übermächtig. Tock, tock – metallische Klangstäbe wie Schläge in seinem Kopf mischten sich mit der eindringlichen Stimme des Richters: „Jalda – verstorben, Eva – vermisst, …“ Dazwischen mischte sich das Wispern unzähliger Kinderstimmen. Er schüttelte seinen dröhnenden Kopf.

Die folgenden Stunden erlebte er wie in einem Rausch. Anhörungen von Gutachtern, Zeugen, Beratungen. Erst als er zur Urteilsverkündung aufstehen musste, wurde er etwas klarer im Kopf. „Schuldig in allen Anklagepunkten!“

Sie hatten NICHTS verstanden! Aber wie sollte auch ein Richter urteilen über seine Studien und die medizinischen Durchbrüche dank seiner Forschungen?! Wissenschaft fordert immer Opfer!

Für einen Moment sah es so aus, als würde er auf der Anklagebank zusammensacken. Er beugte sich vorne über. Nur seine Frau, in der letzten Reihe des Saales sitzend, ahnte etwas. Sie wusste genau, welche kleine Kapsel er in der rechten Tasche des alten Sakkos bei sich trug.

Sie war keineswegs so unwissend wie zu Anfang ihrer Ehe geblieben.

Aber auch jetzt blieb sie ihrer Rolle treu. Sah, wie er seine Hand zum Munde führte, noch bevor einer der Umstehenden eingreifen konnte. Als lautes Entsetzen sich breitmachte, ein Menschengetümmel um die Anklagebank entstand, blieb sie mit gesenktem Blick ruhig sitzen.

Wieder einmal behielt ihr Mann recht. Wissenschaft fordert Opfer!


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Weitere Geschichten, Gedichte und Gefühle für jeden Tag finden Sie in unserer neuen Anthologie novum #12. Einen ersten Eindruck von unserem neuen Sammelband teilen wir hier mit Ihnen:

Titel: „novum #12 Volume 1“ & „novum #12 Volume 2“ & „novum #12 Volume 3“ & „novum #12 Volume 4“ & „novum #12 Volume 5“
Herausgeber: Wolfgang Bader
Inhalt: In der bereits 12. Ausgabe der novum-Anthologie werden Auszüge aus dem schriftstellerischen Werk unterschiedlichster Autorinnen und Autoren in verschiedenen literarischen Genres präsentiert. Literaturinteressierte werden ganz bestimmt auf ihre Kosten kommen.
Seitenanzahl: 208 (Volume 1) & 196 (Volume 2) & 218 Seiten (Volume 3) & 292 Seiten (Volume 4) & 206 Seiten (Volume 5)
ISBN: 978-3-99131-768-5 (Volume 1) & 978-3-99131-769-2 (Volume 2) & 978-3-99131-770-8 (Volume 3) & 978-3-99131-771-5 (Volume 4) & 978-3-99131-772-2 (Volume 5)
Preis: € 17,90

Die novum #12 Anthologie ist in insgesamt fünf Teilen erschienen. Die Kurzgeschichte von Dagmar Grosch-Rieck wurde in Band 4 abgedruckt. Hier geht es zur Buchbestellung von:

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Volume 2
• Volume 3
Volume 4
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