Erst als sie den Schnee auf ihren nackten Füssen spürte, wurde ihr klar, was eben passiert war. Sie betrachtete den Himmel und fragte sich, wie die Kulisse des Lebens so schnell wechseln konnte.

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Der Blick himmelwärts erzählte ihr von Wundermond und Sternenzauber, doch hier unten verblasste der märchenhafte Traum schneller als ihr lieb war. Sogar der süße Duft der Weihnachtsbäckerei ihrer Großmutter lag ihr noch in der Nase. Als wäre er ein alljährlicher Hoffnungsträger für diesen einen Abend, wenn die Familie aus allen Himmelsrichtungen wieder in dem Haus in den Bergen zusammentraf und gemeinsam den Heiligen Abend feierte.

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In Gedanken belächelte sie sich selbst, weil sie all die tollpatschigen Versuche ihrer Großeltern, den Abend würdigend zu zelebrieren, absichtlich übersah. Immer war es ihre Liebe für diesen kindlichen, wahren Kern, den sie in jedem Menschen erahnte und der ihr die Kraft für solche Familienfeierlichkeiten gab. Eigentlich übertraf schon diese Bezeichnung die Realität, doch der Wunsch danach war in jedem Einzelnen der Anwesenden tief vergraben und wurde scheinbar jedes Jahr am 24. Dezember wieder lebendig. Immer wieder dachte sie an das kleine Mädchen, das ihre Oma einmal war und welches mit vier Jahren mit ihrem Polster aus dem Elternhaus geschickt wurde, in dem das Weihnachtsfest aus Lieblosigkeit nicht gefeiert wurde. Die Erinnerung daran schenkte ihr Mitgefühl und gerade deshalb wollte sie sie nicht auslöschen. Sie verstand nicht, wie ihre Tante immer wieder bei gerade solchen Anlässen für alle hörbar zum Ausdruck bringen musste, dass ihr alle Familiengeschichten überaus vergessenswert erschienen. Manchmal ärgerte es sie, dass gerade jene Tante sich selbst den inneren Frieden zusprach, den sie durch verschiedene Meditationen und Räuchertechniken schon einige Male erlangt hatte.

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Dass innerer Frieden den Äusseren völlig kalt lassen konnte, war eigentlich für alle Anwesenden mittlerweile von der Befürchtung zur Erkenntnis gelangt. Keiner von ihnen konnte es in Worte fassen.  Ja, das zeichnete diese Familie eindeutig aus: sie hatte keine Sprache. Weder für Erlebtes, noch für Gedachtes oder Gefühltes. Wie hätten sie je miteinander über sich hinauswachsen können? Die vertrauten Beschimpfungen des Großvaters über das Gesamtgeschehen, jedoch hauptsächlich über seine Frau, wurden erst in jenem Moment als die Sternspritzer am kahlen Weihnachtsbaum erleuchteten, unterbrochen. Der Moment der Rührung, ausgelöst durch das wohl vielstimmigste Stille Nacht der Gegend, war wohl der heiligste des ganzen Abends.

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Normalerweise rührten ihn Marschmusik und Gewehrgeschosse zu Tränen, doch jedes Jahr auch dieses stimmungsvolle alte Lied, das hässlicher nicht dargebracht werden konnte. Doch als gerade jene Schwester, die sich mit Meditationen und Selbstheilungskursen das Geld verdiente, das Neonlicht des Wohnzimmers einschaltete und sich alle etwas schockiert dem Ablauf fügten, erkannte die jüngere Schwester einmal mehr die Arroganz der Älteren und musste ihrem trotzigen Ärger Ausdruck verleihen. Großmutter und Enkeltochter blickten sich in vollem Bewusstsein darüber, wie der Abend wieder einmal enden könnte, an und wogen gemeinsam zwischen Beschwichtigung und Überspielung ab. Hätten sich in diesem Moment nicht einige Kinder um ein Spielzeugteil gestritten und wären nicht aufgrund ihres lächerlich, hysterischen Verhaltens von zumindest einigen der Erwachsenen ermahnt worden, wäre der Abend ziemlich sicher an dieser Stelle schon eskaliert. In den späten Stunden saß nun ein altes, vom Leben gezeichnetes Ehepaar an ihrem ebenso geschundenen Holztisch, umgeben von ihrer Familie. Dessen zwei Töchter, unterschiedlicher sie nicht sein konnten, versuchten unbewusst zumindest eine Gemeinsamkeit zu zelebrieren, wenn es auch der Alkoholgenuss war. Alle Anwesenden wussten, dass es schon längst für beide zu viel war, doch alle überspielten es. Bis zu jenem Moment als das unerwartete Aufdrehen der Musik die Esoteriktante zum Tanzen ermunterte und der Großvater als einziger lachte. Sein Lächeln bedeutete Scham, doch seine zweite Tochter wusste dies nicht und fühlte sich einmal mehr in ihrem Leben nicht beachtet. Ob Alkohol jeden Mensch an seine Urgefühle bringt wusste sie nicht, doch barfuß wie sie war, spürte sie, dass sie diese Szenerie verlassen musste. Ihre Tante und ihre Mutter waren wie zwei Paviane, die um etwas stritten, was sich Liebe nannte. Ein Affentheater in den Tiroler Bergen am Weihnachtsabend, dem Fest der bedingungslosen, göttlichen Liebe.

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© Geschrieben von Janine Kapeller

Der Vorhang tat sich auf, doch als der Höhepunkt des Geschehens im ganzen Dorf erklang, hatte sie sich längst von den Häusern entfernt. Die Schneefelder am Waldrand liebte sie schon als Kind und jetzt dorthin zurückzukehren bot ihr mehr Heimat als der ganze Weihnachtsabend bisher im Kreise ihrer Familie. Sie fühlte sich ein wenig benommen, doch als sie in die klare Winternacht emporblickte, spürte sie auf einmal ihre nackten Füße im kalten Schnee.

Die Weihnachtsgeschichte „Wundermond und Sternenzauber“ entstand im Rahmen der novum Verlag Initiative für die Förderung und Inspiration von Schriftstellern über den novum Corporate Blog und die weihnachtliche #Wortwechsel Adventkampagne. Wir bedanken uns bei Gastautorin Janine Kapeller für ihren inspirierenden Beitrag.

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