Gedankenverloren und hilflos findet sich Mia an einem verlassenen Strandabschnitt wieder. Auf der Suche nach ihren Erinnerungen trifft sie auf einen Mann namens Feigele. Miriam Schwardt sorgt im zweiten Kapitel des novum Verlag Fortsetzungsromans für emotionale Spannung.

Der Wind war kalt und schlug ihr hart ins Gesicht, während sie langsam einen Fuß vor den anderen durch den Sand setzte. Dort wo der Sand fest und nass war und nur wenige große Wellen hinlangten. Es spielte keine Rolle, wie stürmisch die See das Wasser ans Ufer spülte, wie wütend der Wind über die flache Ebene zog. Schon als Kind hatte Mia das Gefühl gehabt, dass an der Küste eine andere Zeit herrschte. Eine, die langsamer verging als in den Städten, eine die nie verging, wie es ihr vorgekommen war. Mia war erwachsen geworden und wusste nun, dass jede Zeit ihre Zeit hatte und ihr Ende, und auch der längste Strandspaziergang irgendwann zu Ende ging.

Dass die Sonne unterging, egal wie sehr sie sich noch eine weitere Stunde wünschte. Mia spürte wie die Stunden an ihr vorbeirannten, aus denen Tage, Wochen, Monate und schließlich Jahre wurden. In ihren Träumen versuchte sie manchmal verzweifelt, ihre Zeit am Verlaufen zu hindern, sie festzuhalten, aber wonach auch immer sie greifen wollte, ihre Hände fuhren durch leere Luft. Vielleicht war das der Grund für ihr Verschwinden, und vielleicht war es doch der Unfall in jener schicksalhaften Nacht, der sie hierher geführt hatte.
Mia war geflohen aus ihrem alten Leben, weg von Schuld und Schmerz, welche sie dort zurückgelassen hatte, um sie nie wieder zu treffen. Mia war nicht naiv genug um zu glauben, dass jene beiden Gefährten sie auf immer verlassen hatten. So einfach entging man den vielen Unfällen des Lebens nicht. Aber hier, wo das Wasser sanft den Sand des Ufers berührte, waren Schmerz und Schuld Fremde. Mia drehte sich plötzlich ruckartig um und starrte zurück in die Ferne aus Wasser und Sand, aus der sie gekommen war. Wo bin ich, wollte sie flüstern, aber ihr Mund war zu trocken und die Angst war wieder da. Die Angst von gestern Nacht. Oder war es gar nicht gestern gewesen, sondern vorgestern? Mia spürte wie Panik ihren Verstand gefrieren lassen wollte. Sie wusste nichts mehr. Nicht was gestern passiert war, nicht wie sie hierher gekommen war. Nicht wo sie war. Sie wusste ja noch nicht einmal, welcher Wochentag heute war. Sie hatte alles vergessen, sie hatte gestern vergessen! Irgendetwas tief in ihrem Inneren bohrte an der Oberfläche ihres Bewusstseins, aber kam nicht hindurch. Nur die vorbewusste Ahnung, dass es mit der Party zusammenhing, dass dort etwas Schreckliches passiert war. Etwas, das sie hier hatte aufwachen lassen.

Verwirrt drehte sie sich wieder um. Ihr Kopf fühlte sich taub an, als hätte sich ein dichter Nebel in ihm breit gemacht. Nach zwei weiteren Schritten blieb sie abrupt stehen. Warum sollte sie nach vorne gehen, wenn sie keine Ahnung hatte, woher sie kam oder wohin sie ging. Angst und Verzweiflung trieben ihr Tränen in die Augen und mit einem wütenden Schluchzen ließ sie sich auf die Knie nieder. Sie durfte nicht weinen! Es würde ihre Hilflosigkeit nur vergrößern. Mia wischte sich verärgert die Tränen aus dem Gesicht und stand wieder auf. Dort hinten war ein Leuchtturm, also war sie immerhin nicht außerhalb der Zivilisation. Mia straffte die Schultern und sah sich noch einmal genau um. Links von ihr über den Dünen war ein Streifen Wald und vielleicht verbargen sich dahinter Häuser und Menschen? Einen Versuch war es wert. Mia hatte nichts zu verlieren. In diesem Moment fiel ihr auf, dass dem tatsächlich so war: bis auf das dünne weiße Kleid an ihrem Körper hatte sie nichts bei sich. Kein Handy, keinen Ausweis. So tief es sie auch erschütterte musste sie kurz auflachen, als ihr auffiel, dass sie noch nicht einmal Schuhe hatte!

Ein erneuter Blick auf den Wald nahm ihr die Entscheidung ab: sie konnte unmöglich wissen, wie weit der Wald reichte, oder ob sich hinter ihm die Zivilisation auftat. Also blieb der Leuchtturm. Und wenn sie den ganzen Tag dort warten würde, schwor sich Mia: Sie würde warten und irgendwann würde jemand kommen und ihr aus der Misere ihrer Amnesie helfen. Erfüllt von Hoffnung ging sie schnellen Schrittes auf dem harten, nassen Grund nach vorne. Zum Leuchtturm. Bei einer Ansammlung hoher Steine hielt sie inne. Für einen kurzen Augenblick kam ihr der Gedanke, dass die Steine – zwar natürlich aussehend – unmöglich auf natürlichem Weg hierher gekommen waren.
Sie berührte die raue, sandige Oberfläche eines der Steine, während sie zurück sah. Kurz fühlte sie einen unbestimmten Stolz, wie weit sie in den letzten Minuten gelaufen war. Im nächsten Moment kam sie sich dafür albern vor. Erstens hatte sie keine Ahnung, wie viel Zeit wirklich vergangen war und zweitens hatte sie weniger als zwei Kilometer zurückgelegt. Soweit konnte sie schätzen. Sie war in ihrem Leben eine gute Läuferin gewesen. In ihrem alten Leben. In dem es nur noch den Unfall gegeben hatte. Aus dem sie geflohen war… Straßen… Menschen … leuchtende pinke neon Beleuchtung –der Eingang zu einem Club… mehr war da nicht mehr. Sie war nur noch eine junge Frau in einem verschlissenen weißen Kleid und langen grauvioletten Haaren. Ein letztes Andenken aus ihrem ersten Leben.
Gedankenversunken drehte sie sich wieder um und erstarrte. Vor Erleichterung und Freude. Dort nur wenige Meter vor hier stand ein älterer, etwas rundlicher Mann. Er sah freundlich aus, obwohl er Mia ansah, als stünde die Gestalt seiner Albträume vor ihm. Vertraue niemandem! Geh so schnell du kannst! Rede mit niemandem! Mia zuckte zusammen, als Erinnerungsfetzen ihr Bewusstsein streiften. Ihr war, als hätte eine Frau – vielleicht eine Freundin – diese Worte der Warnung zu ihr gesagt. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie sogar ein Bild von einem Mädchen vor ihrem geistigen Auge. Aber der Moment verging viel zu schnell, als dass sie sie hätte erkennen oder auch nur genauer betrachten können. Nur Angst und Vorsicht blieben.
»Kann ich Ihnen helfen?« erkundigte sich der Mann sanft. In Mia kämpfte der Wunsch, ihm ihr Leid mitzuteilen gegen den Drang, auf die Worte der Frau zu hören. Vertraue niemandem! Sie stecken da alle mit drin! Wer auch immer sie war, sie hatte Mia vor etwas warnen wollen. Stand das womöglich gerade vor ihr? In Gestalt eines Mannes mittleren Alters mit wuscheligen Haaren und krummer Nase? Der Mann machte in diesem Moment einen Schritt auf Mia zu. Diese wich erschrocken nach hinten zurück und stieß mit dem Rücken gegen den großen sandigen Stein. Es gab kein zurück mehr. Nur vorwärts. »Wo bin ich?«, fragte sie den Fremden und war überrascht, wie fest ihre Stimme klang.

Das zweite Kapitel der Geschichte „Der Anfang des Zaubers“, entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“, in deren Rahmen ein virtuelles Sammelwerk aus der Feder verschiedener Autoren entstehen soll. Das kollektive Kunstwerk hat die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog zum Ziel. Wir bedanken uns bei Gastautorin Miriam Schwardt, die die Geschichte mit einem spannungsvollen zweiten Kapitel fortgesetzt hat.
Sie haben schon eine Idee, wie die Geschichte weitergehen könnte? Dann schicken Sie uns Ihren Beitrag für Kapitel 3 noch bis 20. November 2017 an newsletter@novumverlag.com und vielleicht sind Sie schon der nächste Autor unserer unendlichen Geschichte, die am 27. November 2017 veröffentlicht wird. Alle Informationen sowie die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.
Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf!
Sehr spannend! Würde gerne mehr aus dieser Feder lesen!