Vom Vertrauen ins Fremde – wenn zwei Leben aufeinanderprallen, entsteht ein völlig Neues. Gastautorin Janine Holstein manövriert die beiden Hauptfiguren durch eine unsichere Zeit mit einem unsicheren Ende.

Die schwere Eichenholztür gab ein bedrohliches Knarzen von sich. Mia öffnete sie einen winzigen Spalt breit. Gerade weit genug, um der Stimme ein Gesicht geben zu können.

„Wo bin ich?“ Der Fremde wirkte nicht gefährlich, aber wer konnte das wissen? Ihre Kleidung fehlte. Kein Telefon. Nichts, das ihr bekannt vorkam, befand sich in dem kleinen Raum. Ihr Kopf schmerzte und doch umschlich sie ein vertrautes Gefühl.

„Wer bin ich?“ Diese Frage stellte sie sich flüsternd mehr selbst als ihrem Gegenüber. „Es steht etwas zu essen auf dem Herd, Sie könnten sich in die Küche setzen.“ Mia zögerte nicht lange, sie war durstig und ausgehungert. Es konnten Tage vergangen sein seit…? Sie wusste es nicht.

Der dampfende Topf roch köstlich und belebte Mias Sinne schlagartig. Ihr Körper lechzte nach Energie. Gierig schlang sie eine Schüssel Brühe hinunter. Das salzige Gebräu aus Wurzelgemüse und Fischeinlage sickerte wärmend ihre trockene Kehle hinab.

„Mein Name ist Bertram Feigele, ich fand Sie am Strand. Kurz darauf brachen Sie zusammen. Die Wunde am Hinterkopf hatte stark geblutet, aber hier draußen ist um diese Jahreszeit kein Arzt, zu dem ich Sie hätte bringen können.“ Fast entschuldigend blickte der gräuliche Mann mit der auffallend tiefen Stimme über den Tisch. Er suchte kaum direkten Blickkontakt, aber das störte Mia nicht im Geringsten. Er sah so verloren aus, wie sie sich fühlte, durchzuckte es ihre Gedanken. Verloren? Hatte sie sich jemals zuvor verloren gefühlt?

„Mir geht es schon viel besser“, log sie. In ihrem Innersten wüteten tausend offene Fragen, doch es fanden sich keine Antworten. Die Flashbacks zeigten unzusammenhängendes Chaos. „Ich, ich kann…“, Mia unterbrach sich mitten im Satz und Bertram nickte verständig. „Du kannst das Zimmer benutzen bis du wieder gesund bist.“ Dann verließ er die Küche und lief schweigend in den Garten hinaus.

Mia folgte dem Fremden durch das Fenster mit ihren Augen. Er setzte sich auf eine vom Wetter verschlissene Holzbank und starrte geradewegs in die Ferne. Soweit das Auge reichte, sah Mia dichten Wald das Grundstück säumen. Die Landidylle erschien fast zu friedlich. Das Haus, altmodisch eingerichtet, mit schweren Möbeln aus naturbelassenem Holz, hatte Charakter. Langflorige Teppiche in erdigen Tönen, blickdichte Vorhänge an stabilen Taukordeln befestigt. Die Tonfliesen der gekachelten Küchenzeile erinnerten an die rustikalen Küchen der Märchenhexen aus alten Geschichten. Der Ofen, versehen mit einer gusseisernen Tür, musste eine Rarität sein, denn dergleichen hatte sie nie zuvor gesehen.

Innerlich zerrissen kramte Mia vergeblich nach Informationen in den Furchen ihres zermarterten Kopfes. Sie schaffte es einfach nicht, die Scherben ihrer Erinnerungen zusammenzuführen. Nichts ergab Sinn. Im Kamin der angrenzenden Stube loderte ein Feuer, schnell beruhigte das leise Knistern und Knacken des brennenden Holzes die junge Frau. Sie musste zu Kräften kommen, doch dafür brauchte sie Zeit. So beschloss sie vorerst an diesem Ort zu bleiben.

Schutzsuchend griff Mia nach einer Wolldecke, zog sie fest um ihre schmalen Schultern und schlurfte in die Stube zu dem verlockend flackernden Licht. Vor dem Feuer kniend, versuchte sie erneut ihre Gedanken zu ordnen. Doch schon binnen weniger Minuten scheiterte sie kläglich. Die Konzentration wich bald schon einem durchdringenden Pochen hinter den Schläfen und schließlich gab sich Mia geschlagen. Bevor sie sich jedoch wieder in ihr kleines Zimmer zurückzog, nutzte sie dessen benachbartes Badezimmer. Es überraschte sie wenig, dort eine schwere Zinkwanne anstelle der klassischen Keramik vorzufinden. „Bertram Feigele ist eindeutig kein Freund von modernem Schnick-Schnack“, dachte sie grinsend.

In den darauffolgenden Tagen kam Mia nach und nach auf die Beine. Bertram hatte Mia in den frühen Morgenstunden immer gehört, wenn sie versuchte, sich möglichst leise aus dem Haus zu schleichen. Jeden Tag zog sie größere Kreise durch die angrenzende Landschaft, von dem kleinen Dorf in der Nähe jedoch hielt sie sich fern. Bertram kannte ihr Geheimnis nicht und er wollte es auch gar nicht kennen. Dennoch wuchs ihm das junge Mädchen mit dem seltsamen Haar mit jedem neuen Tag mehr ans Herz. In dieser Zeit sprachen sie kaum miteinander, doch aßen sie gelegentlich zusammen oder wärmten sich an rauen Nachmittagen wortlos am Kamin. Nur in diesen seltenen Momenten wirkte das Mädchen zerbrechlich. Bertram hatte nie eigene Kinder gehabt und als seine Frau dann vor einiger Zeit gestorben war, war es plötzlich still in seiner ohnehin schon ruhigen Welt geworden. Wie es der Zufall wollte, schien die Kleine seiner verlorenen Liebe auch noch sehr ähnlich zu sein. Ihre tiefgründigen Augen, der wache Ausdruck oder auch die enorme Stärke, welche sie in schier ausweglosen Momenten aufbrachte – Mia erinnerte Bertram mehr an seine verstorbene Frau, als es ihm lieb war.

Eines Abends beobachtete er, wie sie sich aus dem Haus schlich, um hinter dem modrigen Geräteschuppen Feuerholz zu schlagen. Klotz um Klotz zerlegte sie kraftvoll in feine Scheite. Der Anblick erfreute ihn, auch wenn er durchaus selbst gerne zur Axt griff um seine müden Knochen wachzuhalten. Doch die fremde Schönheit in seinem Haus suchte unermüdlich nach neuen Aufgaben und arbeitete hart an sich.

Mia wusste nicht, wer sie war oder woher sie kam, dennoch trainierte sie unbeirrbar ihre Fähigkeiten, denn ihre Flashs verrieten ihr: Hier blieb sie nicht lange sicher. „Vertraue niemandem Mia! Geh!“

Fortsetzung folgt!


Das viertel Kapitel der Geschichte „Der Anfang des Zaubers“, entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“, in deren Rahmen ein virtuelles Sammelwerk aus der Feder verschiedener Autoren entstehen soll.  Das kollektive Kunstwerk hat die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog zum Ziel. Wir bedanken uns bei Gastautorin Janine Holstein, die der Geschichte mit einem progressiven vierten Kapitel eine neue Wendung gegeben hat.

Sie haben schon eine Idee, wie die Geschichte weitergehen könnte? Dann schicken Sie uns Ihren Beitrag für Kapitel 5 noch bis 28. Februar 2018 an newsletter@novumverlag.com und vielleicht sind Sie schon der nächste Autor unserer unendlichen Geschichte, die am 2. März 2018 veröffentlicht wird. Alle Informationen sowie die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.

Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf!

Bisher erschienene Kapitel von „Der Anfang des Zaubers“:

Kapitel 1: Hans-Peter Fitze
Kapitel 2: Miriam Schwardt
Kapitel 3: Udo Rottmann


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