„Geliebte“, „Sünderin, „Versuchung“ – Maria Magdalena  kennt viele Namen. Doch wer war sie wirklich? Dieser Frage geht Autorin Isa Sternitz in einer einmaligen historischen Spurensuche nach. 

Michelangelo Pietà. Detail Maria Magdalena im Arm von Jesus – Museo dell’Opera del Duomo, Florenz
© Isa Sternitz

Wohl keine historische Person aus dem Kanon des Neuen Testaments und dem persönlichen Umfeld von Jesus von Nazareth ist so geheimnisumgeben wie Maria Magdalena. Keine ist mehr Ziel von Spekulationen wie sie, und kaum eine hat wohl auch gerade deshalb das Interesse von Suchenden in der Kirche wie in Kreisen von Künstler*innen und Musiker*innen durch die Jahrhunderte geweckt. Wer ist diese Frau?

Ausgedehnt widmet sich Autorin Isa Sternitz in ihrem neuen Buch dieser Frage. Mit „Der einstimmige Christenglaube in einem Geiste. Quellentexte zu Maria aus Magdala“ legte die Musik- und Kunsthistorikerin Texte aus drei Jahrtausenden vor, in denen die numinose Figur Erwähnung findet. Die Quellen sind ergiebig und reichen vom Lukasevangelium über Johann Sebastian Bach, William Blake und Rainer Maria Rilke bis zu Regisseur Martin Scorsese. Begonnen hat die Faszination von Isa Sternitz für Maria Magdalena mit Dan Browns Roman „Sakrileg“. Ihr eigenes Werk liest sich nicht minder spannend, stützt sich allerdings mehr auf Fakten als Fiktionen. Im Herbst 2022 durfte Isa Sternitz ihr Buch sogar Papst Franziskus persönlich übergeben. Von diesem bewegenden Erlebnis und ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit Maria Magdalena hat Isa Sternitz im Interview mit uns erzählt.

Interview mit Isa Sternitz

Sie beschäftigen sich schon seit mehr als 20 Jahren mit der Figur Maria Magdalenas. Woher kommt die Faszination?

Begonnen hat die Auseinandersetzung mit dem Roman von Dan Brown „Sakrileg“. Maria Magdalena wird als Jesu Ehefrau und Mutter der gemeinsamen Tochter Sarah interpretiert. In 2007 hatte ich auf der Klosterinsel Reichenau den im 11. Jahrhundert lebenden Mönch Hermannus Contractus „kennengelernt“ und seine Sequenz auf die Heilige. Die Musik der gregorianischen Antiphon und der Hymnentext verblüfften mich ungemein, zeichneten ein Bild der geistigen Liebe zwischen Jesus und ihr. Diese intensive Verbindung schien mir eine angemessene Beschreibung einer Liebe zu sein, die so fern von Dans Browns Konzept ist.

Für Ihr Buch haben Sie Quellen aus unglaublichen 2000 Jahren zusammengetragen. Wie und wo haben Sie recherchiert?

Kurz vor dem Lockdown besuchte ich meine Tochter Elena in Istanbul und stieß  auf Kassia, die früheste, namentlich bekannte Komponistin, die im 9. Jahrhundert mit „Kyrie, e en pollais amartiais“ eine Bußhymne zu Maria Magdalena geschrieben hatte. Bedingt durch den Lockdown sammelte ich überwiegend Quellen aus dem Internet und forschte in Literatur wie der Interpretation des „Evangelium nach Maria“ von Jean-Yves Leloup und in Katharina Cemings und Jürgen Werlitz’ „Die verbotenen Evangelien“, die apokryphe Schriften wie das Petrus-, Thomas- und Maria-Magdalena-Evangelium publizierten. In Susan Haskins Buch „Die Jüngerin. Maria Magdalena und die Unterdrückung der Frau in der Kirche“ fand ich wertvolle Hinweise zu Literatur, die mich vor allem auf die Nähe der Kundry in Richard Wagners „Parsifal“ zu Maria Magdalena aufmerksam machte. In Peter Sellars Ritualisierung der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach fiel mir auf, dass er die Altsolistin in die Nähe von Maria Magdalena brachte und fand die Vermutung in seinem 2012 uraufgeführten „The Gospel According To The Other Mary“ bestätigt.

Als Reisen wieder möglich war, fand ich die Zeugin der Auferstehung in der Bildenden Kunst, deren Abbildungen im Quellenbuch die literarischen Texte vertiefen: Madeira, Santiago de Compostela, Rom, Bernardino Luinis Kreuzigungsszene in Santa Maria degli Angioli in Lugano auf dem Cover, Granada, die „Noli-me-tangere“-Szene auf dem Orgelflügel in der Basilika Valére in Sion, der Tiefenbronner Magdalenenaltar von Lucas Moser, das Maria-Magdalena-Fenster in Chartres, Altäre in der Hamburger Kunsthalle.

In Einsiedeln, Admont und der  Bayerische Staatsbibliothek konnte ich Maria-Magdalena-Musik in den prächtigen, mittelalterlichen Codices bewundern.

Orgelflügel – Basilika Valére, Sion
© Isa Sternitz

Die „Sünderin“, die „Prostituierte“, die „Geliebte“, „Geist der Wahrheit“ „ – es gibt viele Interpretationen über die Rolle der Maria Magdalena. Welcher Auslegung fühlen Sie sich am nächsten? 

„Geist der Wahrheit“ ist vorzüglich. Und auch Apostolin der Apostel, die Jesu Wort nach Südfrankreich trug. Ich glaube, dass ihr Predigen diese Sprache geprägt hat. Deutet nicht zum Beispiel der Nous (Geist, Vernunft, zu Gott gewandte Spitze der Seele) auf die Bindung zu allen Menschen hin? Klingt in dem „Ich bin“ der Name des Erlösers an?

Maria Magdalenas Wirken auf das Leben Jesu wird unterschätzt, schreiben Sie in Ihrem Buch. Was führt Sie zu dieser These?

In ihrer Sanftmut, bedingungslosen Liebe und der Überwindung der sieben Gestalten des Zorns, der sieben Dämonen, war sie Jesus ebenbürtig. Er schätzte ihre Fragen als weise und gebunden an das All-Eine, zu lesen in der „Pistis Sophia“. Nur ihr konnte er die bedingungslose Liebe predigen, durch sie konnte er sie leben. Sie gab ihm die Kraft, den Weg zum Kreuz zu vollenden. Sie bereitete durch die Salbungen seinen toten Körper auf die Heimkehr zum Vater vor. Und sie verstand sein „Noli-me-tangere“ als ein Schweben zwischen irdischem und himmlischen Dasein, das sie mit ihrem Geist begleitete und keine Berührung wie die von Thomas brauchte.

Ihre Quellentexte reichen vom Lukasevangelium bis zum Dekret von Papst Franziskus, nach dem die Feier der heiligen Maria Magdalena im Römischen Kalender als Fest zu behandeln ist. Welche Dokumente haben Sie beeindruckt und auch bei Ihnen für Überraschungen gesorgt?

In dem vorzüglichen Film von Garth Davis von 2018 wird im Nachspann Papst Gregor zitiert, der sie als Hure bezeichnet hat. Monatelang suchte ich nach der deutschen Übersetzung der Predigten, die Gregor 591 über Maria Magdalena hielt. Immer wieder stieß ich auf herausgerissene Seiten, die eine Überlieferung der wirklichen Worte Gregors verhinderten. Schließlich fand ich in der Universitätsbibliothek Konstanz das vollständige Manuskript.

Es ist richtig, dass Gregor Maria Magdalena, Maria von Bethanien und die namenlose Sünderin in einer Person vereint. Gänzlich überrascht stellte ich fest, dass Gregor die große Liebe der namenlosen Sünderin preist, die am Tisch des Pharisäers mit ihren Tränen Jesu Füße wäscht, sie mit ihrem Haar trocknet, küsst  und salbt. Nirgendwo bezeichnet Gregor sie als Hure.

Diese Interpretation hat das Bild Maria Magdalenas extrem geprägt. Ich vergleiche es mit den Bildern von 9/11: unüberwindbar, von den Mächtigen in Szene gesetzt, um zu verunglimpfen, bis hin um „Ungläubige“ der Verfolgung auszusetzen. Im Barock wurden die sieben Dämonen mit der Wollust gleichgesetzt. Diese veränderte Rezeption der Maria Magdalena gipfelt schließlich im 2. Teil von Goethes „Faust“, der sie als „magna peccatrix“ zeichnet. Dies wurde in der Klassik eifrig repetiert und sie kräftig verunglimpft.

Im 21. Jahrhundert ist auch die Kirche aufgerufen, sich mit überholten Frauenbildern zu beschäftigen. Inwiefern kann Maria Magdalena einen Beitrag dazu leisten?

Maria Magdalena ist die einzige Frau des Neuen Testamentes die nicht in Bezug auf einen Vater oder Sohn gekennzeichnet ist. Sie stammt aus Magdala am See Genezareth und folgte Jesus freiwillig, sorgte mit ihrem Vermögen für seinen Unterhalt. Sie hat mit Jesus eine wirkliche Heldenreise begonnen. Ihn bis in den Tod zu begleiten ist für mich Zeichen der Überwindung der sieben Gestalten des Zorns. Jesus hat sie unterstützt, sich den Höllen in ihrem Inneren zu stellen und diese zu überwinden. Genau das hat sie stark gemacht. Bis er ihr als Erste erschien und sie als „Apostolin der Apostel“ beauftragte, die Botschaft seiner Auferstehung an die Jünger zu überbringen. Maria Magdalena als Lehrerin, als echte Nachfolgerin Jesu.

Für uns alle ist es schwer, neue Wege zu gehen, sich mit alten Glaubenssätzen oder Triggern, wie wir heute sagen, auseinanderzusetzen.

Maria Magdalena zeigt uns, wie wir in Weisheit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit und freiem Denken handeln und neue Wege erobern können.

Welche Rolle spielt Maria Magdalena Ihrer Meinung nach für den Feminismus und die Feministische Religionsforschung?

Ihre Führung durch Geistigkeit weist uns einen Weg, männliche und weibliche Fähigkeiten zu integrieren, zu respektieren, klug im Team und in würdevollen Beziehungen aktiv zu leben.

Ende 2022 durften Sie Ihr Buch Papst Franziskus persönlich überreichen. Wie war diese Begegnung für Sie und welche Worte haben Sie an ihn gerichtet?

Ein unglaubliches Erlebnis. Er hat meine Hand ergriffen, war von einer überwältigenden Güte und Milde. Er las den Titel und meinte dann „Ich muss es lesen.“ Ich dankte ihm für die Ehre, das Quellenbuch überreichen zu dürfen und bat ihn, für meinen zweiten historischen Roman „Scolari und die innere Alchemie“ Geheimdokumente in der Vatikanischen Bibliothek einsehen zu dürfen.

Im Dankesschreiben Seiner Heiligkeit las ich die Bestätigung seiner Aussage: profunde Kenntnis des Buches, wertvolle Hinweise zur Vertiefung, die Wertschätzung für die Exzellenz des Quellenbuches.

© Rainer Hugendubel

Dürfen wir uns über weitere Bücher von Isa Sternitz freuen?

Ende November ist der historische Roman „Scolari. Sieben Gestalten des Zorns“ im novum Verlag erschienen. Viele Quellentexte aus dem „Einstimmigen Christenglauben“ sind darin verwoben. Insbesondere die Aufgabe, die Jesus Maria Magdalena kurz vor seinem Tod übermittelte und die Sequenz des Hermannus Contractus wandern bis in unser Jahrhundert durch Raum und Zeit. Sie bringen Heil, Erlösung und stärken die geistigen Beziehungen der Menschen.

Ein zweiter historischer Roman, in dem Maria Magdalena und die Gabe, die sie auf Jesu Geheiß sammelte, ebenfalls eine große Rolle spielt, ist schon in Bearbeitung.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Auch Sie schreiben einen Historienroman und sind noch auf der Suche nach vielversprechenden Quellen? In diesem Beitrag finden Sie wertvolle Tipps zur Recherche.

Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf!

Ihr novum Verlag


Über die Autorin

© Rainer Hugendubel

Isa Sternitz, geboren 1960 in Bayern, studierte Historische Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Neuere Deutsche Literatur in Kiel und Hamburg. Promotion 1999 in München. Auf der Insel Reichenau im Bodensee begegnete ihr der Universalgelehrte, das Mirakel des 11. Jahrhunderts, Hermannus Contractus und dessen Maria-Magdalena-Sequenz. Seitdem ist sie fasziniert von den der Heiligen gewidmeten Kompositionen, Gemälden und Texten. Mit „Der einstimmige Christenglaube in einem Geiste. Quellentexte zu Maria aus Magdala“ legte Sternitz Texte aus drei Jahrtausenden im novum Verlag vor und widmet sich als Chor- und Orchesterdirigentin der Maria-Magdalena-Musik.

Sie wollen über neue Veröffentlichungen von Isa Sternitz informiert bleiben? Neuigkeiten von der Autorin finden Sie laufend auf deren Website.


Über das Buch

Wohl keine historische Person aus den kanonischen und apokryphen Evangelien und dem persönlichen Umfeld von Jesus von Nazareth ist so geheimnisumgeben wie Maria Magdalena.Wer ist diese Frau?

„Der einstimmige Christenglaube in einem Geiste. Quellentexte zu Maria aus Magdalena“
Isa Sternitz
364 Seiten
ISBN: 978-3-99131-508-7
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