In ihrer Kurzgeschichte lässt Wortwechsel Gewinnerin und Gastautorin Viktoria Harrer das warme Licht einer alten Freundschaft wieder aufleuchten.

novum Verlag Wortwechsel

Zwei Mal im Jahr suchen im Rahmen unseres novum Verlag Wortwechsel Geschichtenwettbewerbs die besten Gedichte, Kurzgeschichten und Gedankenauszüge von Autor*innen und allen, die es werden wollen. Im Sommer 2021 haben wir gedankenvolle Texte zum Impulswort „Nachtlaterne“ gesucht. Mit einer Geschichte, die daran erinnert, dass wahre Freundschaft ewig währt, hat uns Autorin Viktoria Harrer überzeugt. Die Kurzgeschichte der Autorin finden Sie ab sofort in unserer neuen Anthologie novum #11, die eine Textsammlung kurzweiliger Texte, die zum Nachdenken und -fühlen anregen, enthält. Alternativ können Sie den Text auch gleich hier im Beitrag lesen und verstehen lernen, warum alte Freund*innen nie weiter als einen Herzschlag voneinander entfernt sind.

„Nachtlaterne – Freundschaft in neuem Licht“, von Viktoria Harrer

Barfuß schlenderte sie durch ihren kleinen, wilden Garten, obwohl es bereits dunkel war. Sie liebte das Gefühl von Gras auf ihren nackten Fußsohlen. Das abgelegene Grundstück am Waldrand war ihr perfekter Rückzugsort. Die Geräusche der lauen Sommernacht drangen beruhigend an ihr Ohr – hier konnte sie Energie tanken. Tief durchatmend sah sie zum Wald hinüber und blickte überrascht auf, als sich in der Dunkelheit ein warmes Licht langsam auf sie zubewegte.

Wer konnte das um diese Zeit sein?, überlegte sie irritiert. Für Spaziergänger war es eigentlich schon zu spät. Es ging bereits auf Mitternacht zu. Hinter ihr sah sie die Umrisse ihrer Terrassentür. Das Licht im Wohnzimmer hatte sie angelassen. Sollte sie zurückgehen?

Vor etwa einem Jahr waren Charlotte und ihr Mann Simon in das gemütliche Cottage am Dorfrand gezogen. Es war eine Ruhe-Oase und der Garten ein Paradies. Die bunten Wildblumen zogen surrende Bienen und wunderschöne Schmetterlinge an. Der Pavillon, den sie aus Weidenruten gebaut hatten, lud zum Träumen in der Sommerhitze ein. Im Hintergrund hörte man leise den kleinen Bach gurgeln.

Das Licht kam immer näher und steuerte zielgerichtet auf sie zu. Sie war versucht, nach Simon zu rufen, doch irgendetwas hielt sie zurück. Nun konnte sie eindeutig Schritte hören – ein regelmäßiges Knirschen auf dem Schotterweg. Charlotte kniff die Augen zusammen. Langsam konnte sie eine Silhouette erkennen. Und dann stand eine Frau vor ihr. Das Gesicht lag im Schatten. Sie hielt eine kleine Laterne in der Hand. „Hallo, Charlotte!“, sagte sie und Charlotte wäre fast in Ohnmacht gefallen. Wie konnte das sein? Langsam stahl sich ein unsicheres Lächeln auf ihr Gesicht und sie stotterte: „Hi … Ich meine, oh mein Gott … Wie um alles in der Welt …“ Dann hielt sie nichts mehr zurück und sie fiel in die Arme von Susanna.

Sie wusste im Moment nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Susanna war ihre beste Freundin gewesen. Es war eine Freundschaft, die man nicht oft findet. Sie hatten Abenteuer bestanden, sich von ihrem ersten Kuss erzählt und wollten immer unzertrennlich bleiben. Doch oft kommt es im Leben anders als erwartet. Susanna verliebte sich. Was folgte, waren eine Blitzhochzeit und der Umzug nach Los Angeles, der alles veränderte. Susannas Mann wollte zurück nach Hollywood und das schnelle Geld verdienen. Zu Charlottes Entsetzen folgte ihm Susanna von heute auf morgen und ließ alles zurück – ihre Familie, ihren Job, ihre Freunde.

„Du wirst sehen – in einem Jahr ist Will ein gefeierter Regisseur und wir schwimmen im Geld. Dann komme ich zurück und wir werden eine Villa hier und in Kalifornien haben.“ Damit versuchte Susanna, Charlotte zu beruhigen. Diese wiederum erkannte ihre beste Freundin nicht mehr. Was hatte dieser Kerl ihr erzählt, um sie so um seinen Finger zu wickeln? Man wurde doch nicht innerhalb eines Jahres reich. So unrealistisch konnte Susanna doch nicht sein.

Diese reagierte beleidigt auf die Einwände und Bedenken ihrer Freundin. „Du gönnst mir nur mein Glück nicht und bist neidisch.“ Damit war etwas zwischen ihnen zerbrochen. Susanna flog noch in derselben Woche und hatte von da an auf keine Nachricht mehr reagiert. Das war jetzt fünf Jahre her. Charlotte war anfangs sehr verletzt. Sie versuchte, ihre Freundin zu verstehen. Diese hatte vorher eine Pechsträhne gehabt. Ihr wurde wegen Firmenaufgabe gekündigt und ihr langjähriger Freund hatte eine Neue. Doch dass sich ein Mensch von heute auf morgen so verändern konnte, hätte sie nicht gedacht. Irgendwann ließ der Schmerz des Verlustes nach und sie lebte ihr Leben. Und jetzt? Jetzt stand Susanna vor ihr. Es war, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen – als hätten sie erst gestern miteinander Kaffee getrunken.

Nachtlaterne Viktoria Harrer

Charlotte fing sich als Erste wieder. „Was machst du hier? Und vor allem mitten in der Nacht und dann auch noch zu Fuß?“ Da erst bemerkte sie, dass Susanna zitterte. „Okay, komm doch erst mal rein und dann erzähl mir alles.“ Sie ergriff ihren Arm und bugsierte sie durch den Garten zur Terrasse. Ein Blick nach innen zeigte ihr, dass Simon vor dem Fernseher eingeschlafen war.

„Setz dich doch schon mal hin, ich gehe schnell rein und hole etwas zu trinken. Was möchtest du?“ „Etwas Wein wäre ganz gut, für die Nerven, danke“, erwiderte Susanna. Die kleine Laterne stellte sie auf den Terrassentisch. Sie schenkte ein wohliges Licht.

Leise huschte Charlotte in die Küche, um Simon nicht zu wecken. Er kannte Susanna gar nicht – sie hatten sich erst ein Jahr später kennengelernt. Eine Flasche Barolo und zwei Gläser in der Hand, trat sie zu Susanna. Im Schein der Laterne erkannte sie jetzt tiefe Schatten unter deren Augen. „Was ist los?“, fragte sie daher noch mal. Und Susanna begann zu erzählen.

„Anfangs war alles ganz glamourös“, erzählte sie. „Wir kamen in Los Angeles an und wurden von vielen wichtigen Leuten empfangen – das dachte ich zumindest, denn sie alle waren in den angesagtesten Klamotten gekleidet. Ich kam mir vor wie ein Landei, das ich ja eigentlich auch immer war. Mit einer Limousine wurden wir in die Hollywood Hills gefahren. Vor einer riesigen Villa hielt sie an und Will erklärte mir, dass wir hier nun wohnen würden. Ich dachte nur WOW!“

Der Schein trog. Bald stellte sich heraus, dass alles falscher Glanz war. Susanna wurde misstrauisch. Und das zu recht, denn nachdem Will sie immer wieder mit Versprechungen und teuren Geschenken besänftigt hatte, forschte sie nach. „Ich war so blauäugig. Ich dachte wirklich, er ist DER Mann in meinem Leben. Dass ich mich so manipulieren lassen könnte, hätte ich nie gedacht“, sagte sie und sah Charlotte an. Diese erwiderte: „Du hast damals eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Du wolltest nur, dass sich dein Leben wieder ändert.“ Susanna nickte und fuhr dann in ihrer Erzählung fort. Sie fand heraus, dass Will das Geld auf kriminellen Wegen verdiente – Prostitution, Zuhälterei, Drogenhandel. Es dauerte lange, bis sie es sich eingestand. Zu allem Übel vergnügte er sich selbst in der Szene. Sie hatte er nur für den gesellschaftlichen Status. Susanna gab die Hoffnung noch immer nicht auf und stellte ihn zur Rede. Doch als er ihr vorschlug, sie könne doch auch ins Geschäft einsteigen, jetzt, wo sie sowieso Bescheid wisse, ergriff sie die Flucht und ließ abermals alles zurück.

„Ich konnte einfach nicht mehr“, schluchzte sie. „Ich wusste, wo du wohnst, doch ich habe mich nie getraut, dich anzurufen. Dich oder meine Familie, nachdem ich euch so vor den Kopf gestoßen hatte. Aber ich musste weg. Also habe ich alles Geld zusammengesucht, das ich im Haus finden konnte, bin in ein Taxi und anschließend in das erstbeste Flugzeug nach Deutschland gestiegen. Vom Bahnhof hierher musste ich dann zu Fuß, ich habe keinen Cent mehr. Die Laterne habe ich auf einem Haufen Sperrmüll gefunden. Sie kam mir durch den Wald gerade recht.“ Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Dann liefen ihr Tränen die Wangen hinab: „Es tut mir so leid“, flüsterte sie.  

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Charlotte sprang von ihrem Stuhl auf und nahm ihre Freundin in die Arme. Denn das war sie auch nach all den Jahren noch – ihre beste Freundin, ein Teil ihrer Seele. Es war egal, wie viel Zeit vergangen war, vergessen war, was passierte – es galt nur noch das Hier und Jetzt. Sie hatten sich wiedergefunden.

Als sie sich aus ihrer Umarmung lösten, sah Charlotte eine Bewegung hinter sich. Simon stand in der Terrassentür und sah seine Frau fragend an. Diese räusperte sich: „Schatz, das ist Susanna. Sie wird einige Zeit bei uns wohnen.“ Dankbar lächelte Susanna sie an. Es ist nie zu spät, zu verzeihen. Echte Freunde halten zueinander – immer. Das warme Licht der Nachtlaterne hüllte die drei ein und hielt sie geborgen wie eine Familie. Ja, dachte Charlotte, sie hatten wirklich einen Garten, der ihre Träume erfüllte.


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Die ganze Variationsbreite gefühlvoller Kurzgeschichten finden Sie in unserer neuen Anthologie novum #11. Einen ersten Einblick in unsere facettenreiche Neuerscheinung nehmen Sie hier:

Titel: „novum #11 Volume 1“ & „novum #11 Volume 2“ & „novum #11 Volume 3“ & „novum #11 Volume 4“ & „novum #11 Volume 5“ & „novum #11 Volume 6“
Herausgeber: Wolfgang Bader
Inhalt: Jede unserer Anthologien ist ein Füllhorn an Geschichten, die das Leben schreibt – stets mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Denn die Themen reichen von Liebe, Jugend und Alter bis hin zu Leben und Tod sowie unseren Umgang mit der Natur. Für jeden ist etwas dabei.
Seitenanzahl: 206 (Volume 1) & 198 (Volume 2) & 206 Seiten (Volume 3) & 190 Seiten (Volume 4)
ISBN: 978-3-99131-444-8 (Volume 1) & 978-3-99131-445-5 (Volume 2) & 978-3-99131-446-2 (Volume 3) & 978-3-99107-945-3 (Volume 4)
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