Letzten Winter haben wir erneut zu einem Kurzgeschichtenwettbewerb aufgerufen. Autorin Sabine C. Fuhrer ließ sich von uns zu dieser schöngeistigen Geschichte inspirieren.

Mit unserem Kurzgeschichtenwettbewerb Wortwechsel begeben wir vom novum Verlag uns zwei Mal im Jahr auf die Suche nach begnadeten Neu- und Nachwuchsautoren. Dazu geben wir jeweils ein Wort vor, das als Titel oder Inspirationsgeber einer 6.500 Zeichen umfassenden Kurzgeschichte dienen soll. Die besten Geschichten werden nicht nur hier auf unserem Blog, sondern auch in der novum Anthologie, an der Jahr für Jahr zahlreiche Autoren mitwirken, veröffentlicht. Die Vielfalt an Beiträgen erzeugt ein Vibrato unterschiedlichster Stimmungen, das auch nach dem Lesen noch lange nachwirkt. Die Gewinnerin unseres letzten Wortwechsels hat das Gefühlsspektrum unseres kürzlich erschienenen Sammelbandes novum #8 mit einem melancholischen Beitrag erweitert. Sabine C. Fuhrer erzählt von verblassenden Erinnerungen, den Bildern, die sie in uns zurücklassen, der Notwendigkeit, sie los- und dem Mut Neues zuzulassen. Doch lesen Sie selbst, zu welcher gefühlvoll geschriebenen Geschichte sich die Autorin von unserem letzten Leitwort „Glutwolken“ hinreißen ließ.

„Kräuterkind“, von Sabine C. Fuhrer 

Die Dämmerung kriecht langsam über die hohen Bäume ins Tal, ein wundervoller Tag taucht ein in die kommende Nacht. Glutrot tanzen die letzten Sonnenstrahlen in den Wolken. Der Himmel brennt. Noch könnte ich zurück, denkt der bärtige Mann. Aber seine Füße in den derben Lederstiefeln tragen ihn unaufhaltsam weiter auf die einsame Hütte zu. Vor der niedrigen Holztür hält er inne, blickt um sich. Nein, niemand scheint ihm gefolgt zu sein. Erleichtert lässt er sich auf die altersschwache Holzbank draußen neben dem Eingang nieder. Dann schließt er die Augen und kehrt zurück. In die Zeit, als sie alle noch glücklich waren.

Das laute Hämmern des Ambosses drang in seinen Schlaf, been- dete seine Träume. Ein beruhigend vertrautes Geräusch, sein Va- ter hatte mit der Arbeit begonnen. Er räkelte sich noch etwas un- ter der rauen Decke, rieb sich die Augen. Dann stand er auf und schlüpfte noch im Dunkeln in seine Kleider. In der Küche stand seine Mutter über die Feuerstelle gebeugt, im Topf köchelte der Haferbrei. Nach einem hastigen Frühstück beeilte sich der Junge, seinem Vater in der Werkstatt zu helfen. Das Feuer mit Holz zu füttern, es stets am Brennen zu halten war seine wichtigste Aufgabe. Sein Vater war ein wortkarger, jedoch stets gut gelaunter und freundlicher Mann und die Arbeit mit ihm bereitete dem Jungen große Freude. Abwechslung boten immer die Fahrten zur Auslieferung der geschmiedeten Ware. Ehrfürchtig bestaunte dann das Kind, an die Hand des Vaters geklammert, die hohen Decken und riesigen Feuerstellen in der großen Burg. Die mollige Köchin ließ es sich auch nie nehmen, ihm einen rotbackigen Apfel oder einen großen Kanten Brot zuzustecken.

„Magnus, vergiss das Atmen nicht während du sprichst!“, ermahnte die Mutter ihn immer, wenn er von den Ausflügen mit dem Vater zurückkehrte, in die Küche oder den Hühnerhof stürmte und der Mutter erzählte, was er alles zu sehen bekommen hatte.

„Warum darf ich nie mit?“ Immer wieder stellte Freya, Magnus jüngere Schwester, diese Frage. Und mit geschwellter Brust antwortete der Junge ihr dann: „Weil das Männerarbeit ist.“

Glückliche Erinnerungen, die dem Mann auf der Holzbank vor der Hütte das Herz erwärmen, ihn lächeln lassen. Doch nur ein kleiner Gedankensprung und er stürzt ins bodenlose, dunkle Nichts. Seine Finger krallen sich schmerzhaft in seine Oberschenkel, ein unterdrücktes Schluchzen entweicht seiner Kehle. Er will diese Hölle nicht noch einmal durchleben! Jedoch ist er gegen die Flut der Bilder, welche ungebeten auf ihn einstürzen, machtlos.

Niemand hörte nun mehr zu, wenn er die Geschichten aus der Burg erzählen wollte. Keine schützenden Arme, die ihn umschlangen, wenn er sich fürchtete. Und sie sang ihm auch keine Lieder mehr vor. Die Mutter war nicht mehr da. Nur drei Tage lag sie darnieder, mit hohem Fieber und wirrem Blick. Nie würde er diesen Anblick vergessen. Und nun lag sie, in ihr bestes Kleid gehüllt, in diesem kalten Erdloch. Des Nachts verfolgten ihn in seinen Träumen dicke Würmer, die sich an ihren zarten Wangen satt fraßen.

Um den Schmerz zu lindern, stürzte er sich in die Arbeit. In Vaters Werkstatt erlernte er den Beruf des Schmiedes. Unter seinen Händen und dem schweren Hammer entstanden Schwer- ter und Dolche, kaputte Töpfe wurden wieder heil. So fand er in seinen eigenen Rhythmus, um nicht vom Leid des Verlusts übermannt zu werden.

Freya jedoch, auf der Schwelle vom Mädchen zur jungen Frau, brachte den Tod der Mutter völlig neben sich. Das sanftmütige, fröhliche Mädchen schien ebenfalls gestorben zu sein. Freya benahm sich aufmüpfig, gab dem Vater laute Widerworte. Tagelang verschwand sie, ohne jemandem zu sagen, wo sie sich herumtrieb. In ihrer Kammer hingen kleine Säckchen aus Stoff, es roch nach Wald und Kräutern. Als Vater einmal wissen wollte, was da denn so rieche, fauchte Freya wie eine wild gewordene Katze. Also ließen die Männer die junge Frau lieber in Ruhe.

„Mein kleiner Junge lebt! Das Fieber ist verschwunden.“ Die Nachbarin mit den kurzen, schwarzen Haaren stand breitbeinig in der Werkstatt.

„Freya hat ihm einen Kräutersud eingeflößt. Sie hat ihn gesund gemacht. Die alte Grit, welche draußen im Wald in der kleinen Hütte lebt, hat sie in der Kräuterkunde unterrichtet.“

Nun wussten die beiden Männer, wo Freya ihre Zeit verbrachte.

„Nein, Vater, ich höre nicht auf damit! Wenn ich schon so vieles über Kräuter gewusst hätte, dann würde Mutter heute vielleicht noch leben.“ Freyas Blick, auf ihren Vater gerichtet, war wild und entschlossen.

Lautes Geschrei und das Krachen von Fäusten an ihrer Tür rissen Magnus, Freya und den Vater aus dem Schlaf. Verwirrt öffnete Magnus die Tür.

„Gib uns Freya! Sie hat mit ihrem Sud meinen Sohn getötet, er ist nun doch gestorben. Sie ist eine Hexe und hat ihn vergiftet!“ Mit vereinten Kräften schafften es Magnus und sein Vater, die Tür gegen den Mob zu drücken und zu schließen.

Nach dieser Nacht arbeitete Magnus wie ein Besessener. Nun auch noch seine Schwester zu verlieren brach die alte Narbe des Schmerzes wieder auf und überschwemmte ihn mit großer Wut und Trauer. Obwohl Freya es geschafft hatte, aus dem Haus zu flüchten und sich durch die Wälder davonzuschleichen, war auch sie nicht mehr da. Geblieben waren er und sein Vater. Zwei Männer voller Herzschmerz.

Ein markerschütternder Schrei reißt ihn zurück auf die Holz- bank. Magnus blinzelt, die Vergangenheit will ihn nur zögernd loslassen. Er springt auf, hetzt in die Hütte. Dann bleibt er wie angewurzelt stehen. Er kann die Veränderung fühlen. Mit eisigen Fingern greift sie in seinen Nacken und rinnt wie Eiswasser in sein Herz. Auf dem Strohlager liegt Freya. Nach vielen Jahren ist sie nach Hause zurückgekehrt.

„Ich kann sie nicht beide retten, Magnus.“ Er kann Grits Stimme an seinem Ohr wohl hören, aber er will den Sinn der Worte nicht wahrhaben.

„Magnus, bist du da?“ Das kehlige Flüstern seiner Schwester treibt ihm die Tränen in die Augen. Er setzt sich zu ihr, nimmt ihre kleine Hand.

„Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Nein, Magnus, lass mich reden. Versprich mir, dass du dich um mein Kind kümmern wirst. Sei ihm ein Vater, als wenn es dein Kind wäre. Und übergebt mich bitte neben Mutter der Erde.“

Magnus sitzt auf einem Stein. Sein Blick gleitet über die beiden Grabhügel, die schlichten hölzernen Kreuze. In seinen Armen hält er seinen Neffen, den kleinen Jan. Das Lächeln des Kleinkindes vermag den Schmerz im Herzen des Mannes etwas lindern. Dankbar drückt Magnus das kostbare Bündel an seine Brust.


Eine Ihrer Kurzgeschichten wartet noch auf ihre Veröffentlichung? Sie wollen Ihr Talent unter Beweis stellen? Unseren aktuellen Kurzgeschichtenwettbewerb unter dem Titel „Quarantäne“ und eine Chance auf eine Veröffentlichung in unserem nächsten Buch finden Sie hier.

Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf,

Ihr novum Verlag


Die ganze Variationsbreite gefühlvoller Kurzgeschichten finden Sie in unserer neuen Anthologie novum #8. Einen ersten Einblick in unsere facettenreiche Neuerscheinung nehmen Sie hier:

Titel: „novum #8 Volume 1“ & „novum #8 Volume 2“
Herausgeber: Wolfgang Bader
Inhalt: Literatur in ihrer gesamten Pracht, stilistisch, sprachlich, thematisch – Schicksale, Erfahrungen, Geschichten, Gedichte, hier ist für jeden etwas dabei! Mal witzig, mal tragisch, mal magisch, mal wahr – die neue Anthologie deckt alles ab.
Seitenanzahl: 338 (Volume 1) & 338 (Volume 2)
ISBN: 978-3-99107-165-5 (Volume 1) & 978-3-99107-166-2 (Volume 2)
Preis: € 19,90

Die novum #8 Anthologie besteht aus zwei Teilen. Hier geht es zur Buchbestellung von Volume 1 und hier können Sie Volume 2 bestellen!