Letzten Sommer hat Nachwuchsautorin Susannah Winter bei unserem Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen – und uns mit einem unerwarteten Beitrag überrascht.

Mit unserem Kurzgeschichtenwettbewerb Wortwechsel begeben wir vom novum Verlag uns zwei Mal im Jahr auf die Suche nach begnadeten Neu- und Nachwuchsautoren. Die besten Geschichten werden nicht nur hier auf unserem Blog, sondern auch in der novum Anthologie, an der Jahr für Jahr zahlreiche Autoren mitwirken, veröffentlicht. Der soeben erschienene Sammelband novum #7 trumpft nun mit der Kurzgeschichte unserer neuesten Gastautorin auf. Susannah Winter erzählt die Geschichte einer Ehefrau, die stumm ihr Schicksal aus Kummer, Kränkung und Zurückweisung duldet. Doch in ihr reift ein grausamer Plan.
„Der weiße Garten“, von Susannah Winter
Sie war zwanzig, als sie Paul traf. Sie hätten gegensätzlicher kaum sein können. Maria war schüchtern, fühlte sich in Menschenmengen unwohl und brauchte ihre Rückzugsräume. Paul war da ganz anders. Ein Glückskind. Immer auf der Sonnenseite des Lebens. Erfolgreich im Beruf, gutaussehend, intelligent. Er war die Karriereleiter hinaufgefallen. Immer fand sich jemand, der seinem Charme erlag. Konnte sie es ihnen verdenken? Er hatte zweifellos ein einnehmendes Wesen.
Sie selbst verfiel ihm damals so vollkommen, dass sie über die Schattenseiten hinwegsah. Denn andere Frauen, die hatte es immer gegeben. Sie kamen und gingen. Als sie einige Jahre verheiratet waren, begann er sogar, seine Liebschaften mit nach Hause zu bringen. Er stellte sie als seine „Mitarbeiterinnen“ vor, manchmal als „Freundinnen von früher“. Doch so dumm war Maria nicht. Nur heute wie damals voller Liebe für den Mann, den sie mit 22 Jahren geheiratet hatte. Sie tat das, was man von Frauen der oberen Mittelklasse erwartete. Sie schwieg stolz und vergab ihm. Wieder. Und wieder. Und dann noch einmal.

Anstatt ihn zu konfrontieren, zu streiten, zu schreien, konzentrierte sie sich auf die Wäsche, den Haushalt. Sie hatte in den letzten Jahren ganz passabel kochen gelernt. Sie lebte ihr Leben um seine Bedürfnisse herum und hätte man sie in all den Jahren gefragt, sie hätte nicht sagen können, ob sie glücklich oder unglücklich war. Die Leere, ein schwarzer Strudel in ihr, hatte sie mit Hobbys ausfüllen wollen. Erst malte sie, jedoch fehlte ihr hier das Talent. Zeitgleich begann sie, mit seinem Einverständnis selbstverständlich, an ihrem Garten zu arbeiten. Für ihn opferte sie viel Zeit und Liebe, züchtete ihre Lieblingsblumen und gelegentlich Gemüse. Sie versuchte sich auch an Handarbeiten. Ein kleiner Zeitvertreib vor dem Fernseher, wenn er mal wieder „Spätschicht“ hatte, wie er es nannte. Sie hatte viele Namen dafür. Und keinen davon hätte sie je auszusprechen gewagt.
Schließlich fand sie den Weg in die Kirche vor Ort. In all den 45 Jahren ihres Lebens hatte sie in der festen Überzeugung gelebt, sie sei Atheistin und die Kirche ein Hort für dumme Menschen, die an unsichtbare Hände glaubten, die in ihr Leben eindrangen und darin herumfuhrwerkten. Wie konnte man Gott sehen in einer Welt, in der so viele Unschuldige nur Elend fanden?
Die Kirchenbesuche überraschten sie jedoch. Sie genoss die Ruhe der Kirche, die ewig gleiche Litanei. Sie entschloss sich sogar für einen Kircheneintritt bei den Katholiken, um das Abendmahl empfangen zu dürfen. Ihr Mann lächelte müde über diese „Marotte“, wie er es nannte. Sie jedoch ging von nun an zwei Wochentagen in die St. Anna-Gemeinde und brachte sich im Chor und bei anderen kleinen Veranstaltungen ein. Und viel Zeit, sehr viel Zeit, verbrachte sie damit, die große Jesusstatue über dem Altar zu bewundern. Eine feine Bronzearbeit, überlebensgroß. Das Gesicht wirkte schmerzverzerrt, Blut tropfte unter der Krone hervor. Beide Hände waren an die Querbalken des Kreuzes genagelt. Je tiefer die Leere in ihrem Inneren wurde, desto tiefer erfüllte sie das immense Leid des Gottessohnes.
An diesem Tag kam sie aus der Kirche nach Hause, pflegte noch den Garten, machte Essen. Dann, wie einer kurzen Eingebung folgend, verschwand sie nochmal in Pauls Werkzeugkeller. Schließlich war sie auf den heutigen Abend gut vorbereitet.
Er kam spät, wie sie erwartet hatte. Viel zu spät. Er gab sich dieser Tage nicht mal mehr Mühe, den Anschein von Treue oder Liebe zu wahren. Er roch nach der anderen, sein Haar war zerzaust. Er nickte ihr zur Begrüßung nur kurz zu, öffnete dann Pfannen und Töpfe und nahm sich, worauf er Appetit hatte.
Das Diazepam im Essen bemerkte er nicht. Es dauerte keine halbe Stunde, dann schlief er.

Maria ging ans Werk.
Als Paul wieder erwachte, wollte er schreien. Maria hatte ihn jedoch derart geknebelt, dass von seinen Schreien nur matte, erstickte Töne zu hören waren.
Sie betrachtete ihr kleines Kunstwerk. Die Anstrengung hatte sich gelohnt. Da hing er nun, seine Hände rechts und links von sich gestreckt. Nägel ragten aus seinen fleischigen Handflächen, waren in die Dielenwand dahinter eingetrieben.
Sie hatte ihn nur notdürftig aufheben können. Er war größer und schwerer als sie, so dass es ihr unmöglich gewesen war, seine Füße anzuheben. Stattdessen war nun durch jeden Fuß ein einzelner Nagel in die Holzdielen des Fußbodens getrieben. Für besseren Halt hatte sie auch Nägel durch seine Schultern getrieben.
Wie er da so hing, erfüllte sie mit Glück. Er übertraf die Schön- heit der Christusstatue noch um ein Vielfaches. Und für den Moment gehörte er nur ihr allein. So schön und rein wie in diesen Minuten seines Schmerzes hatte sie ihn noch nie gesehen. Mit jedem Tropfen Blut, den er verlor, verlor er seine Unreinheit. Er wimmerte kindlich und sie wollte ihn trösten.
So saß sie bei ihm, sang für ihn einige der Litaneien, sprach Gebete, die sie in der Kirche oft sprachen, las für ihn aus der Bibel vor. Im Buch der Hebräer steht, Gott werde Ehebrecher vernichten, erklärte sie ihm wie beiläufig. Irgendwann saß sie einfach nur da, an der Wand ihm gegenüber und wartete, dass Gottes Urteil gesprochen wäre, während Paul langsam ausblutete und zusehends schwächer wurde. So saß sie Stunde um Stunde. Und schließlich war es vorbei. Zumindest für Paul. Für Maria fing die Arbeit erst an. Mit einer Schaufel und einer Taschenlampe bewaffnet ging sie hinaus und grub ein Loch inmitten ihrer schönsten, weißesten Blumen.
Am nächsten Tag blickte Maria zufrieden auf den Garten, Resultat jahrelanger Arbeit, Liebe und Pflege. Zwischen weißen Amaryllen und Gerbera konnte man Lilien entdecken, wenn man genau hinsah. Viele von ihnen noch in ihrem grünen, engen Kleid, zum Bersten gefüllt. Doch die Blüten, die sich bereits weit geöffnet hatten, verströmten ihren süßlichen Duft bis weit über den Garten hinaus. Ihr intensiver Geruch über- lagerte, was ein Passant von Pauls Überresten hätte riechen können, die sie letzte Nacht nur hastig und notdürftig mit ein wenig Erde überschüttet hatte. Er hatte im Sterben seine Unschuld wiedererlangt. Jetzt würde er hier mit der reinen Schönheit der prachtvollen Blumen verwachsen.
Sie winkte einer vorbeischlendernden Nachbarin, dann wandte sie sich wieder ihrem weißen Garten zu, der in den kommenden Wochen ganz besonders viel Pflege brauchen würde.
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Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf,
Ihr novum Verlag
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