Im Frühjahr 2019 hat Nachwuchsautorin Alice Wakenfield bei unserem Kurzgeschichtenwettbewerb gewonnen. Das ist ihre Geschichte.

Mit unserem Kurzgeschichtenwettbewerb Wortwechsel begeben wir vom novum Verlag uns zwei Mal im Jahr auf die Suche nach begnadeten Neu- und Nachwuchsautoren. Die besten Geschichten werden nicht nur hier auf unserem Blog, sondern auch in der novum Anthologie, an der Jahr für Jahr zahlreiche Autoren mitwirken, veröffentlicht. Der soeben erschienene Sammelband novum #6 trumpft mit der Kurzgeschichte einer besonders begabten Autorin, Alice Wakenfield, auf. Lesen Sie hier die berührende Geschichte eines gebrochenen Mannes, der eine zweite Chance erhält.

„Die letzte Kirschblüte“, von Alice Wakenfield

In einer dunklen Seitenstraße von Schanghai, eingequetscht zwischen einem Fischladen und einem Bestatter, liegt die kleine Bar. Das Holzschild mit der Aufschrift „Die letzte Kirschblüte“ hängt schief und ist nahezu verblasst. Doch die Kunden finden die kleine grüne Tür auch ohne einen weiteren Hinweis.

Öffnet man sie, liegt vor einem ein niedriger, dunkler Gang. Links und rechts gehen Türen ab, die immer verschlossen sind. Für den Gast ist der Hinterraum bestimmt, die schäbige, von einigen Laternen nur unzureichend erleuchtete Bar. Hinter einem Tresen, der beinahe die ganze Rückwand einnimmt, thront Wilhelm. Man erzählt sich, er wäre nach dem Boxer- aufstand geblieben, einer Frau wegen. Und als sie dann viel zu jung und viel zu schön bei einem Unfall dahingerafft wurde, hätte er die Bar aufgemacht und sie nach seiner großen Liebe benannt – Yinghua.

Er redet nicht darüber. Er redet überhaupt nicht viel. Aber wenn man abends, wenn alle Lokale zumachen, nicht nach Hause will oder kein Zuhause hat, dann ist seine Tür immer offen. Es gibt gutes Bier, das er selbst braut, und natürlich Maotai und den Fünfkorntrank. Die meisten kommen wegen des Bieres und der Mädchen, die schmal und kühl an der Theke sitzen.

Von der Straße hat er sie geholt, um die Gäste zu unterhalten, mehr nicht. Meint einer, nach dem dritten Bier oder so, zudring- lich werden zu dürfen, findet er sich rasch in der schmalen Gasse hinter der Bar wieder, meistens leicht lädiert und so geschickt in den Straßendreck geworfen, dass seine Kleidung nur noch für den Abfall taugt. So haben die Männer das gelernt und benehmen sich.

Es ist der siebte Tag des siebten Mondmonats, der Tag, an dem die wolkenwebende Liebesgöttin Zhi Nu ihren Mann treffen darf, eine Brücke zwischen den Göttern und den Sterblichen gebaut ist. Die Wolken müssen dicht sein an diesem Tag, damit sie ihr Gewicht tragen. Und aus diesen dichten Wolken fällt ein unfassbarer Regen.

An diesem Abend, kurz vor Mitternacht, kommt ein neuer Gast in die Bar. Wasser läuft ihm aus den Haaren, über das schmale Gesicht und in der plötzlichen Wärme beschlagen sofort seine Brillengläser, sodass er zunächst blind wie ein Maulwurf in Richtung Tresen tapst, dann mit einer wütenden Geste die nassen Haare aus der Stirn wischt und die Brille vom Gesicht reißt. Die anderen Gäste lächeln, haben sie ihre wasserfesten Ponchos doch längst zum Trocknen an den Ofen gehängt. Das muss ein Fremder sein, neu in der Stadt, ein Verdacht, der vom Blick in seine runden Augen bestärkt wird.

Der Gast, nun besser orientiert, setzt sich an den Tresen und schaut Wilhelm interessiert an. Ein Bier hätte er gerne, sagt er und zeigt auf einen großen Krug. Dabei zieht er seine durch- nässte Jacke aus und legt sie ausgebreitet auf den Hocker neben sich. Das weiße Hemd klebt an seiner Haut, schmal und verletzlich sieht er aus.

Der Wirt mustert ihn und nickt einem der Mädchen zu. Sie lächelt, nimmt ihm die Jacke weg und nötigt ihn mit einem Handtuch im Arm ebenfalls sein Hemd auszuziehen. Sichtlich unwohl fühlt er sich, der junge Mann, der seinen bloßen Oberkörper in den warmen Stoff wickelt. Aber dann scheint es ihm besser zu gehen. Auch die Brille scheint wieder klar und sitzt auf seiner Nase.

Seine Hände umfassen den Bierkrug, Knöchel treten hervor, als wolle er ihn zerdrücken, aber nur einen Moment. Dann hebt er ihn an und trinkt einen großen Schluck. Wilhelm steht dicht bei ihm, lehnt sich leicht angespannt an die Kasse und betrachtet ihn. Nur die breite polierte Holzfläche trennt die beiden, als der Wirt sich plötzlich vorbeugt, sein Gesicht ganz nah an das des Fremden bringt und ein Erkennen in seinen Augen aufflackert. Irritiert weicht er zurück, rückt nun seine Brille über dem buschigen, inzwischen ergrauten Schnauzbart zurecht, wendet sich ab und beginnt mit dem Polieren der Gläser, einer Aufgabe, die üblicherweise den Mädchen vorbehalten ist und deren Beobachtung die anderen Gäste leiser werden lässt.

Er habe zur Göttin gebetet damals, als Yinghua starb, erinnere er sich, flüstert der junge Gast und man sieht die breiten Schultern des Wirtes zucken. Und sie habe ein Einsehen gehabt, heute, wo die Wolken so dicht und so stark sind, dass sie nicht nur ihr Gewicht zu ihrem Liebsten tragen, sondern auch noch ein anderer mit ihr gehen kann. Und so habe sie ihm, seinem früheren Ich, erlaubt hinüberzugehen und ihn zu holen und zurückzubringen für einen Tag seiner Wahl mit seiner Liebsten. Und der Wirt dreht sich um und legt seine breiten Hände auf die noch schmalen des jungen Fremden, Tränen laufen seine Wangen herunter und sein Gesicht ist so nass, als sei er die ganze Nacht durch den Regen geirrt auf der Suche nach sich selbst. Er blickt tief in seine Augen, erkennt sich darin und die Verzweiflung, die er spürte, als seine junge Frau in seinen Armen starb, so unsinnig, so nutzlos umgefahren von dieser Kutsche. Und er zweifelt nicht, er senkt den Kopf und nickt und raunt das Datum. Und der Fremde nickt, wohl ahnend, was er, der Ältere, Weisere zu verhindern gedenkt.

In einer dunklen Seitenstraße von Schanghai, eingequetscht zwischen einem Fischladen und einem Bestatter, liegt das kleine Haus. Das Holzschild mit der Aufschrift „Die letzte Kirschblüte“ hängt schief und ist nahezu verblasst. Doch die Mädchen finden die kleine grüne Tür, hinter der sie ein gutes Zuhause finden werden bei Wilhelm und Yinghua.


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