Die Wege trennen sich und Mia wirft einen letzten, klärenden Blick in die Vergangenheit. Gastautor Konstantin Milz löst die Nebel der Amnesie und vollendet unseren Fortsetzungsroman mit einem gefühlvollen Finale.

Mias Gefühle überschlugen sich. Sie konnte nur noch an Nele denken, dieses kleine, unschuldige Mädchen, das sie vor etwa zwei Wochen auf der vom Krieg zerbombten Straße in einer amerikanischen Kleinstadt zurückgelassen hatte. Plötzlich wurde sie von heftigen Kopfschmerzen ergriffen und Bilder aus der Vergangenheit zeichneten sich klar und deutlich in ihrem Gedächtnis ab. Sie wusste, dass sich eine Vision ankündigte:
Damals war Mia zusammen mit Jonas in jener Kleinstadt unterwegs gewesen, wo sie für eine Weile bei einem anderen Empathenpaar, Jack und Sidney, Unterschlupf gefunden hatten. Dies war nicht selbstverständlich gewesen, denn normalerweise blieben solche Paare unter sich. Sobald sich nämlich Behüter einander näherten, spürten sie die Anwesenheit der jeweils anderen. Die besondere Gefahr bestand allerdings darin, dass sich die Fähigkeiten aller Behüter durch den Zusammenschluss verstärkten. Die unbewusste Bündelung ihrer Kräfte setzte Energien frei, welche die unergründlichen und unersättlichen Schatten wie einen Kompass zu den Behütern führte. Und genau das war vor zwei Wochen geschehen:
Mia, Jonas und ihre zwei Gastgeber waren in der Stadt unterwegs gewesen. Sie waren gerade am Nachhauseweg von einem Abendessen im Restaurant, als sie vor einem Club Zeugen einer Auseinandersetzung zwischen zwei jungen Männern geworden waren.

Einer der Männer hatte ein Messer gezogen und sein Gegenüber schwer im Gesicht verletzt. Mia war, ohne nachzudenken, zu ihnen geeilt und hatte ihre Fähigkeiten eingesetzt – noch bevor Jonas sie hatte warnen können. Die Lage hatte sich augenblicklich beruhigt, die beiden jungen Männer voneinander abgelassen, einander um Verzeihung gebeten und nicht mehr als verblüffte Zuschauer hinterlassen, die sich wahrscheinlich gefragt hatten, was hier vor ihren Augen wohl vor sich gegangen war.
Doch dies war das geringste Problem gewesen, denn auf einmal hatten alle Lichter in der Umgebung begonnen zu flackern. Die Schatten waren da, so plötzlich wie unerwartet. Mia, Jonas, Jack und Sidney hatten fliehen wollen, doch die hohe Energiedichte, die sich an diesem Ort zu manifestieren drohte, hatte die Schattenwelt angezogen wie ein Silbertablett voll mit den köstlichsten Delikatessen. Im Nu hatte diese dunkle, alles verschlingende Macht ihre gesamten Kräfte mobilisiert, um von so vielen Menschen wie möglich Besitz zu ergreifen – allen voran von den Soldaten der an der Stadtgrenze liegenden Militärbasis.
Nur wenige Minuten waren vergangen, als schon die ersten Kampfflugzeuge am Himmel zu hören waren. Jack und Sidney hatten schnell den Entschluss gefasst, mithilfe ihrer Fähigkeiten blitzschnell die Stadt zu verlassen, denn vier Behüter hätten die Macht der Schattenwelt nur noch verstärkt. Wären die vier Behüter den Schatten zum Opfer gefallen, wäre das Gleichgewicht von Licht und Schatten stark verschoben worden.
Jonas hatte Mia klar gemacht, dass auch sie die Stadt verlassen mussten. Doch Mia hatte nicht riskieren wollen, dass die Schatten der Spur ihrer Magie folgten, jetzt, wo ihre Tarnung und ihr Schutz so offensichtlich waren. Sie mussten sich jetzt unauffällig verhalten. Also hatten die beiden vorerst nur den Schauplatz der Auseinandersetzung verlassen. Doch die Katastrophe war nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die erste Angriffswelle war von den Kampfflugzeugen, nur eine Stunde später die zweite, in Form von Militärfahrzeugen, Panzern und von Schatten besessenen, bewaffneten Soldaten gefolgt.

Mia und Jonas waren verzweifelt von Versteck zu Versteck gehastet, hatten aber mit ansehen müssen, wie all die verzweifelten und unschuldigen Menschen der Stadt um ihr Leben gekämpft hatten, während alles um sie herum zerfallen war. Doch Mia und Jonas hatten nicht eingreifen können, ohne sich zu verraten, also war ihnen keine andere Wahl geblieben, als selbst zu fliehen. Schließlich waren sie an einer leeren, zerbombten Straße vorbeigekommen, wo sie ein weinendes kleines Mädchen erblickt hatten, das verzweifelt nach seiner Mutter gerufen hatte.
Mia, einfühlsam und voller Mitgefühl, war zu ihr gerannt, um sie zu beruhigen. Sie hatte nach dem Namen des Mädchens gefragt. „Nele“, hatte sie geflüstert und Mia dabei aus ausdruckslosen Augen angestarrt. Mia war entsetzt zurückgewichen, sie kannte diesen Gesichtsausdruck. Zu spät hatte sie bemerkt, dass sie direkt in eine Falle gelaufen war. Das Mädchen war von den Schatten besessen gewesen. Schon hatte Nele Mias Fähigkeiten zu absorbieren begonnen.

Nur der schnellen Reaktion von Jonas war es zu verdanken gewesen, dass Mia dem Schatten, der von Nele Besitz ergriffen hatte, an diesem Abend nicht zum Opfer gefallen war. Als Jonas Mia aus Neles Hypnose befreit hatte, waren beide geflohen. Ein paar Straßen weiter hatten sie schließlich einen verlassenen Jeep, den Schlüssel noch im Zündschloss, gefunden. Schnell waren sie eingestiegen, doch Nele war ihnen gefolgt.
Sie war nicht einmal zehn Meter vor ihnen auf der schlammigen Straße gestanden, entstellt von einem wutverzerrten Gesicht. Hinter sich hörten sie die Bomben einschlagen. Die Schatten mussten jetzt ihren Standort kennen. Jonas hatte das Auto gestartet und war losgefahren, denn Nele hatte immer noch einen großen Einfluss auf Mias Gefühle, die nun zitternd und schreiend auf dem Beifahrersitz saß, weil das Schattenwesen ihr Schuldgefühle und Ängste einflößte. Schließlich hatten sie Nele am Straßenrand passiert und im Rückspiegel gesehen, wie die Bomben das Mädchen erfassten. Die Schattenwelt hatte ein weiteres Opfer gefordert.

Sie waren nur wenige hundert Meter gefahren und gerade um eine Straßenecke gebogen, als sie sich direkt vor einem Militärpanzer wiedergefunden hatten, der bereits auf sie gewartet hatte. Diesmal gab es kein Entkommen. Kurz, bevor die Kanonenkugel des Panzers das Zielrohr zu verlassen drohte, hatten Mia und Jonas ihre Fähigkeiten genutzt und sich gerettet. Ihre einzige Chance hatte darin bestanden, sich zu trennen. So war Mia schließlich mit einer Amnesie in Silver Island und Jonas, ebenso seiner Erinnerungen beraubt, in Stockholm gelandet.
Nun hatte sie die Vergangenheit endgültig eingeholt. Jedes Puzzleteil ihrer Erinnerungen war eindeutig vor ihrem geistigen Auge ersichtlich, fügte sich zusammen und ergab ein Gesamtbild, das die Wahrheit endlich offenbarte.
Mia war wieder in der Realität angekommen. Sie lag auf dem Boden in einer entlegenen Straßengasse, rechts neben ihr kniete der besorgte Jonas. „Mia, geht es dir gut?“, wollte er sofort wissen.
„Wo sind wir?“ Mia fühlte sich benommen. Also blieb sie vorerst liegen.
„Du bist in Ohnmacht gefallen und ich musste dich von Jareds Haus wegschaffen, sonst hätten die Schatten unsere Fährte aufgenommen. Hier sind wir erstmal sicher, hoffe ich jedenfalls.“
„Und was ist mit Bertram? Geht es ihm gut? Und wie lang war ich eigentlich weg?“
„Ja, Bertram geht es gut. Er ist zusammen mit Jared wieder unterwegs nach Silver Island. Nach deinem Anfall vor etwa einer halben Stunde haben wir alle zusammen Jareds Haus verlassen. Wir sind dann mit Bertrams Auto hierhergekommen. Vor etwa fünfzehn Minuten sind Bertram und Jared dann losgefahren. Ich wollte nicht, dass sie wegen uns in Gefahr geraten. Die Schatten werden immer noch nach uns suchen. Bertram lässt dir ausrichten, dass er dank dir seinen Frieden mit Jared und mit seiner Frau Linda schließen konnte. Ich bin stolz auf dich, Mia.“
Mia richtete sich auf und sah in Jonas’ hellblaue Augen. „Wir wurden beide getäuscht“, sagte sie und begann zu weinen. „All meine Schuldgefühle Nele betreffend waren nichts als parasitäre Gedanken der Schatten, die mich schließlich zur Verzweiflung und zum Selbstmord treiben sollten. Nele existiert nicht mehr, sie ist für immer weg. Und alles nur deswegen, weil ich zwei Menschen helfen wollte, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Auch dich müssen sie unbewusst manipuliert und deine Erinnerungen getrübt haben.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Jonas verwirrt.
Ich zeige es dir. Mia umfasste mit ihren Händen Jonas Kopf und ließ ihn an ihren jetzt vollständigen Erinnerungen teilhaben. Schlagartig wurden Jonas alle Zusammenhänge der letzten Wochen klar. „Jetzt verstehe ich. Mia, es tut mir so…“
Noch bevor Jonas seinen Satz beenden konnte, sprach die weibliche Stimme wieder, die Mia die letzte Zeit über begleitet hatte und die jetzt auch Jonas hören konnte. Beide wussten, wer es war, denn nun war ihr Geist frei von allem Nebel. Es war ein Wesen aus der Lichtwelt, ein ständiger spiritueller Begleiter und Ratgeber, das jedem Behüterpaar zur Seite steht und wie ein Schutzengel über ihm wacht. Doch durch den parasitären Einfluss der Schattenwelt hatten beide die Verbindung zur Lichtwelt verloren – bis jetzt.

„Nun habt ihr euch wieder vom Klammergriff der Schattenwelt befreit. Der dunkle Zauber hat ein Ende gefunden. Willkommen zurück im Licht, Behüter. Die Welt wartet auf euch.“
Mia und Jonas erhoben sich. Sie verließen die Gasse und die Stadt so schnell wie möglich, weg von den Schatten, die immer noch da draußen lauerten. Sie mussten sich jetzt erholen. Mia schwor sich, nie wieder einen solchen Fehler zu begehen wie vor zwei Wochen. Denn beinahe wäre es ihr letzter gewesen.
ENDE
Das dreizehnte Kapitel ist das vorerst letzte Kapitel des Fortsetzungsromans „Der Anfang des Zaubers“. Der Roman entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“ und wurde von der Feder von in Summe elf verschiedenen Autoren geschrieben. Ziel der Kampagne war und ist die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog. Wir bedanken uns bei allen Gastautoren für ihr Engagement und ihren Einfallsreichtum. Besonderer Dank gebührt an dieser Stelle Gastautor Konstantin Milz, dem es mit seinem fantastischen, dreizehnten Kapitel gelungen ist, alle bisher erschienenen Kapitel zu einem runden, schlüssigen Ende zusammenzufügen.
Sie wollen mehr über die Kampagne erfahren? Hier finden Sie die Details und Teilnahmebedingungen.
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Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf!
Bisher erschienene Kapitel von „Der Anfang des Zaubers“:
Kapitel 1: Hans-Peter Fitze
Kapitel 2: Miriam Schwardt
Kapitel 3: Udo Rottmann
Kapitel 4: Janine Holstein
Kapitel 5: Joline Laura Halbach
Kapitel 6: Anke Leuschke
Kapitel 7: Elena Probst
Kapitel 8: Silvia Drach
Kapitel 9: Janine Holstein
Kapitel 10: Beatrice Reinisch
Kapitel 11: Maik Gädecke
Kapitel 12: Silvia Drach
Kapitel 13: Konstantin Milz
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