Mia und Jonas machen sich bereit zum Kampf mit den Schatten. Vergeblich, denn die Schatten verfolgen in Wahrheit ein ganz anderes Ziel. Gastautorin Silvia Drach begeistert mit einer unvermuteten Wendung.

Überdeutlich vernahm Mia das dumpfe Ticken einer Wanduhr. Ansonsten herrschte betäubende Stille. Bertram stand neben ihr und stöhnte entsetzt auf. Für ihn musste das, was sich vor seinen Augen abspielte, unerklärlich, um nicht zu sagen teuflisch sein. Mittlerweile füllten die Schatten beinahe das ganze Zimmer aus. Schlagartig wurde es düster. Die Schatten drängten sich in die Fensternischen, unter die Couch, hinter den schäbigen Wohnzimmerschrank. Mia warf einen Blick in den zersprungenen Spiegel, der schräg vor ihr an der Wand hing. Bertrams Freund Jared und Nele, das kleine Mädchen, starrten aus verzerrten Gesichtern daraus hervor. Doch da war noch jemand – eine Frau. Sie war nicht mehr jung, aber wirkte sehr gepflegt. Ihr Blick war traurig und anklagend auf Bertram gerichtet.

Die Luft fühlte sich mit jedem Atemzug steriler, kälter, tödlicher an. Mia musste etwas tun, sofort, bevor die Schatten sie gänzlich umschlingen würden.

Jonas räusperte sich. Wir kommen von hier weg, dachte er, den Blick starr auf Mia gerichtet. Die Schatten haben Bertram gesucht, wir sind nicht in Gefahr. Jonas Gedanken zerplatzten in ihrem Kopf wie Seifenblasen. Sie warf ihm einen überraschten Blick zu und schüttelte langsam den Kopf. Sie würde Bertram niemals hier, in diesem schäbigen Zimmer seinem Schicksal überlassen. Er hatte sie aufgenommen, als sie auf seiner Insel gestrandet war. Er hatte sich um sie gekümmert. Warum wollte Jonas den Kampf mit den Schatten nicht aufnehmen? Hatte er Angst, sich zu verlieren? Hatte er Angst, sie zu verlieren?

Sie war eine Empathin. Sie hatte die Macht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, ihre Handlungen zu analysieren, zu korrigieren – Menschen aus größter Not zu retten. Empathie in die Herzen der Menschen zu pflanzen. Die Schatten zurückzudrängen, die sich die Menschen krallten, einen nach dem anderen. Kaltherzigkeit, Gier, Berechnung, Selbstsucht, Feigheit – diese Eigenschaften der Menschen ermöglichten es den Schatten, sich immer weiter auszubreiten, immer mehr Unheil anzurichten.

„Bertram, du musst Jared und auch deine verstorbene Frau um Verzeihung bitten! All die Jahre hast du mit einer Lüge gelebt! Du hast gewusst, dass deine Frau Jared geliebt hat und nicht dich. Du hast Jared verleumdet, damit deine Frau dich heiratet. Bitte deine Frau und Jared um Verzeihung, vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht vergeben sie dir, was du ihnen angetan hast!“ Mias Stimme vibrierte in der sterilen, eisigen Luft.

Bertram stürzten augenblicklich Tränen aus den Augen. Das, was er so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte, brach urplötzlich aus ihm heraus. „Es tut mir so leid. Jared, Linda, bitte verzeiht mir“, schrie er und schlug die Hände vors Gesicht. Einen Moment lang war es totenstill, die Schatten verharrten abwartend, lauernd. Da spürte Bertram eine Hand auf seiner Schulter, dann noch eine auf seinem Arm.  Als er aufblickte, erkannte er seinen Freund Jared und neben ihm Linda, seine Frau.

Jonas nickte Mia erleichtert zu. Er teilte ihr seine Gedanken telepathisch mit. Du hast seine Seele gerettet, aber wir müssen sofort von hier verschwinden. Mia nickte, doch ihr Gesicht war angespannt, denn die Schatten waren immer noch da, wälzten sich nun träge in ihre Richtung.

Auf einmal lichteten sich die Schleier, die ihre Gedanken und ihr Erinnerungsvermögen bislang lahmgelegt hatten. Mia sah sich selbst um ihr Leben rennen, mitten in einer zerbombten Stadt. Und schon schlugen neue Bomben hinter ihr ein. Maschinengewehrfeuer dröhnte in ihren Ohren. „Doch was war dann geschehen? Warum hatten die Schatten sie hier und jetzt eingeholt?“, fragte sie sich still.

Just in diesem Moment entstand in ihrem Kopf das Bild von einem Mädchen, das hinter ihr herlief: Nele, die krampfhaft versuchte, Mia nicht aus den Augen zu verlieren. Doch einen Augenblick später war Nele plötzlich verschwunden und Mia fand sich alleine, zitternd in einem zerbeulten Jeep wieder, der mit Vollgas dahinraste. Sie hörte sich schreien, als der Jeep an Nele vorbeiraste, sah Nele verzweifelt mit den Armen winken, weinen und schließlich auf der schlammigen Straße zusammenbrechen.

Sie warf Jonas einen hastigen Blick zu. Seine Miene zeigte Besorgnis als er erkannte, dass ihre Erinnerung zurückkam. Jeder hätte an deiner Stelle so gehandelt. Er versuchte die Gedanken, die wild in ihrem Kopf hin- und herjagten zu vertreiben. Auch Empathen empfinden Gefühle wie Angst und…

Mia schüttelte wieder den Kopf. Ich war feige und selbstsüchtig. Sie unterbrach Jonas mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht. Ja, ich hatte Angst und… ich habe Nele im Stich gelassen! Deshalb verfolgen mich die Schatten. Und wenn ich nicht wenigstens versuche, Nele zu retten, werden sie mich ewig verfolgen. Denn ich bin nicht würdig, eine Empathin zu sein. Jonas verstummte und schaute sie an.

Fortsetzung folgt!


Das zwölfte Kapitel der Geschichte „Der Anfang des Zaubers“, entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“, in der ein virtuelles Sammelwerk aus der Feder verschiedener Autoren entstehen soll. Das kollektive Kunstwerk hat die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog zum Ziel. Wir bedanken uns bei Gastautorin Silvia Drach, die mit ihrem zwölften Kapitel für eine überraschende Wendung gesorgt hat.

Sie wollen das dreizehnte und damit das letzte Kapitel unseres Fortsetzungsromans verwirklichen? Dann schicken Sie uns Ihren Beitrag für Kapitel 13 noch bis 20. Jänner 2019 an newsletter@novumverlag.com und werden Sie zum Autor, der  über das Schicksal unserer Hauptfiguren entscheidet. Veröffentlicht wird der nächste Beitrag Ende Jänner 2019. Alle Informationen sowie die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.

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Bisher erschienene Kapitel von „Der Anfang des Zaubers“:

Kapitel 1: Hans-Peter Fitze
Kapitel 2: Miriam Schwardt
Kapitel 3: Udo Rottmann
Kapitel 4: Janine Holstein
Kapitel 5: Joline Laura Halbach
Kapitel 6: Anke Leuschke
Kapitel 7: Elena Probst
Kapitel 8: Silvia Drach
Kapitel 9: Janine Holstein
Kapitel 10: Beatrice Reinisch
Kapitel 11: Maik Gädecke
Kapitel 12: Silvia Drach


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