Verschleierte Erinnerungen und schleierhafte Begegnungen – im dritten Kapitel unseres Fortsetzungsromans taucht Udo Rottmann tiefer in die Geschichte zweier Fremder ein.

„Sie sind auf Silver Island, einer griechischen Insel“, antwortete der behutsam näher kommende Bertram, dessen Gewicht tiefe Spuren in dem nassen, kalten Sand hinterließ. „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie Hilfe?“, fragte er mit möglichst sanfter, angestrengt ruhiger Stimme. Seine Hände zitterten und sein Oberkörper war leicht nach vorne gebeugt, so als müsste er jeden Moment entscheiden, ob er fliehen oder kämpfen wollte. Seine Augen fixierten das Mädchen wie ein vom Licht gebanntes Reh, und stockend, mit leiser Stimme, fragte er noch einmal: „Brauchen Sie Hilfe?“. Erneut trat er einen weiteren, vorsichtig platzierten Schritt nach vorne und seine Gesichtszüge spiegelten einen gequälten Ausdruck. Wind zog auf und Wolken erstreckten sich vor der Sonne zu einem nebulösen Vorhang.

In Mias Kopf pochte ein stechender, immer stärker werdender Schmerz. Fragen zermarterten ihr Gehirn und ihr wurde zunehmend schwindlig. Kurz dachte sie, sie sei knapp davor, das Bewusstsein zu verlieren und umzukippen. Nein. Das durfte nicht geschehen. Sie musste jetzt stark bleiben. Sie musste wissen, weshalb und vor allem auf welche Weise sie hierhergekommen war. Sie musste wissen, wer sie überhaupt war. Was es mit dieser Insel auf sich hatte. Jenem Unfall aus vergangener Zeit. Und diesem Mädchen, das sich immer wieder bruchstückhaft in ihre Erinnerungen schlich. Doch so sehr sie sich auch konzentrierte, es gelang ihr nicht, sich zu erinnern. Außer kurz aufblitzenden Bildfetzen, die sich ihr beim Schließen ihrer Augen explosionsartig auftaten, war da nichts.

„Ich bin vom Weg abgekommen und brauche einen Unterschlupf. Außerdem benötige ich etwas zu essen. Ist diese Insel bewohnt?“, fragte Mia wieder mit erstaunlich entschlossener Stimme. Jetzt erst bemerkte sie, dass dieser dickliche Mann Deutsch sprach. Ganz wie von selbst hatte sie ihm in seiner Muttersprache geantwortet. Dabei war sie Amerikanerin. Was hatte das alles zu bedeuten?
Wachsende Wellen erbrachen sich an den Klippen und der beißende Geruch von Meereswasser durchflutete die Luft. Möwen zogen über dem Leuchtturm wie gierige Aasgeier ihre Runden, als warteten sie schon darauf, ihre neue, nur leicht bekleidete Beute zu verzehren. Möwen, die ihre Kreise über vermeintlicher Beute ziehen?

Bilder von schreienden Menschen, brennenden Autos und bewaffneten Soldaten drangen gewaltsam in Mias Erinnerungen. Sie erkannte außerdem das kleine Mädchen am Straßenrand wieder. Dieses Mal aber nicht mit dem kindlichen Gesicht, sondern mit einer schauderhaft, auf groteske Weise, verzerrten Fratze. Ärzte mit Vollschutzanzügen, die sich über verwundete und kranke Menschen beugten. Mia begann stark zu schwitzen und ihr blasses Gesicht glänzte in den letzten, herabfallenden Sonnenstrahlen. Sie wollte noch etwas sagen aber außer einem, „Wo…“, brachte sie nichts mehr heraus.

„Hallo? Hey!? Hören Sie mich? Hey Sie? Können Sie mich hören?“, entfuhr es Bertram mit hektischer Stimme. Er lief zu Mia und schrie noch etwas, was sie jedoch nicht mehr verstand. Einen Augenblick davor war sie sich noch durch ihr nasses Haar gefahren und hatte diese dicke, warme und zähe Flüssigkeit gespürt. Schon seit geraumer Zeit hatte sie sich benommen gefühlt und der zunehmende Schmerz an ihrem Kopf war vielleicht der Grund dafür gewesen. Beim Betrachten ihrer zittrigen, blutüberströmten Hände wurde ihr schließlich schwarz vor Augen und es schien, als würden ihre Beine sich für einen kurzen Moment in Gummi verwandelt haben. Sie verlor ihr Bewusstsein und kippte vornüber zu Boden.

Dicke Wolken hatten sich mittlerweile gebildet und die Sonne hinter tiefe Barrikaden verbannt. Der Wind tobte nun und Wellen, die vorhin zärtlich am Strand leckten, krallten sich jetzt wie blutrünstige Klauen in den Sand und prügelten gegen die Klippen. Auch über Bord gegangene Fässer und Kisten eines Schiffes schleuderte der erzürnte Sturm gegen die Felsen und ließ diese zerbersten.

Plötzlich spürte Mia das warme, wohltuende Gefühl von weichen, bequemen Kissen und Decken unter ihrem Kopf. Der Geruch von Holzkohle drang ihr in die Nase und sorgte für alte Erinnerungen. Auch wenn sie immer noch keinen genauen Bezug zu ihrer Vergangenheit herstellen konnte, so vermochte Mia sich für einen Moment wieder gut versorgt und wohl zu fühlen. Außerdem konnte sie die Wärme, die von dem Holzofen auszugehen schien, mit ihrem ganzen Körper spüren. Nach dem kalten Wind hatte sie sich mit ihrem durchnässten Kleid vermutlich eine Unterkühlung eingefangen. Immerhin schien sie gesundheitlich angeschlagen zu sein und so sog sie die Wärme mit Freude und einem Gefühl von absoluter Geborgenheit auf. Geborgenheit.

Nachdem sie sich versichert hatte, dass ihre Wunde am Kopf mit einem Verband versorgt worden war, machte sie sich sofort daran, ihr Zimmer zu erkunden. Wo war sie? War sie von dem fremden Mann hergebracht worden? Wie lange mochte sie schon hier in diesem Bett liegen? Sie versuchte sich krampfhaft an ihre Träume zu erinnern. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie wusste nie was Traum und was Realität gewesen war.

Es klopfte an der Türe.
„Hallo?“

Fortsetzung folgt!


Das dritte Kapitel der Geschichte „Der Anfang des Zaubers“, entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“, in deren Rahmen ein virtuelles Sammelwerk aus der Feder verschiedener Autoren entstehen soll.  Das kollektive Kunstwerk hat die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog zum Ziel. Wir bedanken uns bei Gastautor Udo Rottmann, der die Geschichte mit einem spannungsvollen dritten Kapitel fortgesetzt hat.

Sie haben schon eine Idee, wie die Geschichte weitergehen könnte? Dann schicken Sie uns Ihren Beitrag für Kapitel 4 noch bis 21. Jänner 2018 an newsletter@novumverlag.com und vielleicht sind Sie schon der nächste Autor unserer unendlichen Geschichte, die am 28. Jänner 2018 veröffentlicht wird. Alle Informationen sowie die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.

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