Nach einem Sturm schwebt zumeist etwas seltsam Verklärtes in der Atmosphäre. Welchen Anfang ein windgepeitschter Wellengang an Land spülen kann, hat Hans-Peter Fitze im ersten Kapitel des novum Verlag Fortsetzungsromans zum Ausdruck gebracht.

Am Morgen nach dem Sturm schien der Himmel wie von einem schmutzigen, zerfetzten Leintuch überzogen. Am Horizont hing ein Schleier, den die Sonne sich mühte zu durchdringen. Wellen durchfurchten noch immer das Meer und gaben ihm ein zerknittertes Aussehen. Die Ebbe zwang es zum Rückzug, was es aber, so schien es, nur widerwillig tat. Wellen leckten nach dem angeschwemmten Strandgut, wollten es mit sich nehmen um es an andern Ufern wieder an Land zu werfen oder in den Tiefen des Meeres zu versenken. Eine Flasche, die sich in den Sand gekrallt hatte, wer weiß wie lange sie schon unterwegs war und sich nach einem Landgang sehnte, die vielleicht sogar eine Flaschenpost enthielt, musste sich den sich zurückziehenden Wellen doch noch ergeben. Sie gruben den Sand unter ihr einfach weg und rissen sie, wehrlos wie sie nun war, zurück ins Meer. Nicht weit davon stritten sich zwei Möwen um einen toten Fisch. Sie flatterten hoch, als sich ihnen ein Mann näherte, der die Balgerei der Wellen mit dem Sand um die Flasche, beobachtet hatte. Eigentlich war es ja ein Kampf der Elemente Wasser und Erde. Die Flasche war da nur ein Objekt dieser Auseinandersetzung. Ein angeschwemmter Schiffbrüchiger würde sich natürlich nicht so einfach ins Meer zurücktreiben lassen, er würde sich in der Erde, seinem Element, festkrallen, um mit aller Kraft dem Begehren der See zu widerstehen, während der Fisch, um den sich die beiden Möwen stritten, wohl mit verzweifelten Flossenschlägen noch versucht hatte in sein angestammtes Element zu gelangen.

Bertram Feigele, so hieß der Mann, gewahrte weitere Überreste des Sturms der letzten Nacht: Vogelfedern, zerrissene Fischernetze, Strauchgespinste, die sich zu Kugeln zusammengeschlossen hatten, Blätter und Palmenwedel, ein mit Sand gefüllter Turnschuh und, wie von einem Riesen hingeworfen und in den Sand gedrückt, bizarre Gebilde von Wurzeln und zerrissenen Baumstämmen. Eines davon sah aus wie ein Eichhörnchen, das an einer Nuss geknabbert hatte. Nur gab es keine Eichhörnchen auf dieser Insel, wo Feigele nun seit bereits zwei Jahren wohnte. Er hatte sich frühzeitig vom Erwerbsleben zurückgezogen, um sich zusammen mit seiner Ehefrau in südlicheren, wärmeren Gefilden niederzulassen. Dass er einmal Steuerbeamter gewesen war, säumigen Zahlern Mahnungen zugestellt und Steuererklärungen auf deren Richtigkeit überprüft hatte, das war schon fast vergessen. Er besaß ein Haus im nahen Dorf, wo es außer einer alten Kirche keine nennenswerten Gebäude gab. Feigele macht sich zwar nichts aus Religion, aber in dieser Kirche hockte oben an der Ostwand eine der raren Schwalbennestorgeln, deren Pfeifen zum Teil aus Bambus gefertigt waren. Feigele liebte die Klänge dieser Orgel, die den Raum füllten und seine Seele tief berührten und erzittern ließen.

Das Dorf war um einen Hafen gruppiert, wo frühmorgens die Fischer die Früchte ihrer Arbeit an Land brachten. Gegen Norden breiteten sich Sandstrände, nach Süden streckte sich, durch einen Waldstreifen getrennt, eine spitz zulaufende Landzunge. Auf deren Ende lag ein betagter, meist von Vögeln umkreister Leuchtturm, der sich mit letzter Kraft aufrecht zu halten schien, und an dessen Gemäuer sich allerlei Pflanzen und Blumen entfalteten.

Normalerweise nahm Feigele den Weg durch den Wald, vorbei an verschlungenen Wurzeln, Gerippe von gestürzten Palmen übersteigend und sich zwischen Bäumen durchschlängelnd, aus deren Ästen Schnüre entwuchsen, die sich durch die Luft in den Boden senkten. Am Tage nach dem heftigen Sturm schien es ihm jedoch ratsam einen kleinen Umweg zu machen. Er umging den Waldstreifen, der sich etwa einen halben Kilometer ins Landesinnere erstreckte und bog dann nach Süden, Richtung Leuchtturm. Feigele war ein kleiner, etwas dicklicher Mensch. Er trug ein verwaschenes Hemd über einer grauen Hose. Seine nackten Füße steckten in Sandalen mit dicker Sohle. Das krause Haar, das erste graue Strähnen zeigte, ließ sich nur schwer bändigen. Er versuchte es nach hinten zu kämmen und fuhr sich oft mit der Hand durch die Haare. Dennoch glich seine Haartracht dem zerzausten Gefieder eines Vogels nach dem Bad. Über seinen Augen von hellgrau-grünlicher Farbe hingen dichte, zottige Brauen. Seine Nase schaute leicht nach links und seinen Mund umspielte dauernd ein verschmitztes Lächeln.

Er kam regelmässig an diesen Teil des Strandes, zwischen Waldstück und Leuchtturm, und sammelte Treibgut, das er zu Hause in der Garage sortierte und stapelte. Für ihn waren diese vom Meer angespülten Überreste nicht wertlos. Er erschuf daraus Collagen, setzte die Stücke zu Kunstwerken zusammen, so aus etwas Zerstörtem etwas Neues schaffend, in den ewigen Zeitenlauf von Werden und Vergehen eingreifend.

Gerade als er ein Plankenstück, das noch blaue und rote Farbreste aufwies, aus dem Sand schälte und begutachtete, bemerkte er das Mädchen, das vielleicht 20 Meter von ihm entfernt, etwas unschlüssig vor einem grossen Stein stand.

Lesen Sie hier das zweite Kapitel! 


Das erste Kapitel der Geschichte „Der Anfang des Zaubers“, entstand im Rahmen der novum Verlag Kampagne, „Fortsetzung folgt“, in deren Rahmen ein virtuelles Sammelwerk aus der Feder verschiedener Autoren entstehen soll.  Das kollektive Kunstwerk hat die Förderung und Inspiration von werdenden und etablierten Schriftstellern über den novum Corporate Blog zum Ziel. Wir bedanken uns bei Gastautor Hans-Peter Fitze, der die Geschichte mit einem ersten, horizonterweiternden Kapitel eröffnet hat.

Sie haben schon eine Idee, wie die Geschichte weitergehen könnte? Dann schicken Sie uns Ihren Beitrag für Kapitel 2 noch bis 16. Oktober 2017 an newsletter@novumverlag.com und vielleicht sind Sie schon der nächste Autor unserer unendlichen Geschichte, der am 23. Oktober 2017 veröffentlicht wird. Alle Informationen sowie die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.

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