Die Fortsetzung von „Der letzte Schwerttanz“ setzt unser Gastautor Stephan M. Gert knapp einhundert Jahre nach den Ereignissen um den Namenlosen Helden an. Mit starkem Stil, überraschenden Wendungen und fesselnd erzählt überzeugt die Kurzgeschichte „Im weißen Wald“ als vielseitige Talentprobe.

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Knapp einhundert Jahre später stand Keff Zakyr in einer baufälligen Hütte am Rand der weißen Wälder im Norden des Landes vor einer ungeheuerlichen Maschine aus Glaskolben, Schläuchen und kleinen Flammen darunter, die die Flüssigkeiten in dem Glaskonstrukt zum Kochen brachten, und dachte an eben diese Geschichte vom Namenlosen Helden. „Hätte er sich wirklich sparen können, den Mist mit dem Speer“, murmelte Keff in seinen filzigen Bart und starrte in eine grüngelbe Flüssigkeit, die langsam zähe Blasen warf, die geräuschvoll aufplatzten.

Er zuckte zusammen, als jemand gegen die Tür der Hütte hämmerte. „Keff! Wie sieht’s aus? Bist du fertig mit dem Zeug?“ Keff verdrehte die Augen, als er die Stimme erkannte. Wieso schickten sie den Jungen? Hatten die Roten auf dieser Seite des Waldes wirklich nur noch so wenige Leute? Er ging zu Tür und schloss auf. Draußen stand Lars, einer der drei Söhne der Familie Deschain, und seine Augen leuchteten vor Aufregung. Keff musterte den Jungen, der in seinem etwas zu großen ledernen Brustpanzer und mit schwerem Marschgepäck vor ihm stand, argwöhnisch. Seine Augen hatten, wie es bei fast allen Menschen hier der Fall war, eine hellgrüne, ausgewaschene Färbung. Manche behaupteten, der weiße Wald gäbe seine Farbe zusammen mit seiner Lebenskraft an die Menschen ab, und diese Tatsache sei schon allein an der Färbung der Augen zu erkennen. Keff allerdings, der aus einem ganz anderen Teil dieser Welt stammte, hielt dies für mindestens genauso idiotisch wie die lächerlich anmutende Aufmachung, in der Lars vor seiner Tür aufgekreuzt war.

„Sie wollen wirklich, dass du den Marsch machst, Lars? Bist du dafür nicht ein bisschen jung?“ Lars zog die Augenbrauen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich bin siebzehn und genauso bereit, der Sache der Roten zu dienen, wie die älteren. Und außerdem“, fügte er mit überzeugter Stimme hinzu, „gibt es im Dorf grade einfach zu viel zu tun.“ Keff blickte Lars misstrauisch an, dieser hielt jedoch seinem Blick stand. Seit Lars denken konnte, wollte er den Marsch machen.

„Du weißt, dass die letzten Zwei nicht zurückgekommen sind?“, fragte Keff. Lars schluckte, aber nickte. „Wenn diese Lieferung auch noch verlorengeht, sind auf der anderen Seite bald alle Vorräte aufgebraucht und dann werden die Festung und wir überrannt.“ Kurz zögerte er, dann legte Lars Zeige- und Mittelfinger auf die linke Seite seines Brustpanzers, wo auf der Höhe seines Herzens eine kleine, rote Krone aufgemalt war. „Ich habe mich lange auf den Marsch vorbereitet. Die Lieferung wird ankommen. Das verspreche ich.“ Keff sah ihm tief in die Augen. „Dann weißt du auch“, mahnte Keff leise, „dass man sich auf den weißen Wald eben nicht vorbereiten kann.“ Lars nickte erneut. „Und trotzdem werde ich ihn erfolgreich durchqueren.“

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Der weiße Wald. Das war nicht einfach nur ein Name – die Pflanzen und Bäume, jeder Ast und jedes Blatt der fast fünfzig Meter hohen Baumkronen war schneeweiß. Seit mehreren Jahrhunderten (weitaus länger also, als es die Geschichte des Namenlosen Helden gab, der den Wandel der Welt eingeläutet und den Krieg um dieses Land einst ausgelöst hatte) rankten sich die wildesten Mythen und Gerüchte um diesen Forst. In diesen Erzählungen war die Rede von Wesen, die den Wald bewohnten und älter als die Menschheit selbst sein sollten. Manche sagten auch, der Wald selbst sei solch ein Wesen. Die meisten, die sich hineinwagten, kehrten nie aus ihm zurück, und jene wenigen, die es doch getan haben, sprachen nicht über ihre Erlebnisse. Die Geschichten, die es gab, unterschieden sich so stark voneinander, dass niemand mit Sicherheit sagen konnte, was einen im Inneren wirklich erwartete.

Lars rückte den Beutel zurecht, den er mithilfe eines über seine Brust verlaufenden Taus auf seinen Rücken gebunden hatte, und die Flaschen mit Keffs Lieferung klirrten darin. An seiner Seite baumelte eine rostige, kleine Axt, die er aus dem Garten seiner Eltern mitgenommen hatte. Er verspürte ein wenig Mitleid mit Keff. In etwa einer Stunde würde Mira, die grobschlächtige, kampferprobte Gruppenführerin der Stadtwache, die den Marsch in Wahrheit absolvieren hätte sollen, bei Keffs Hütte eintreffen. Wenn sich dann herausstellen sollte, dass Keff Lars tatsächlich geglaubt, ihm die Lieferung überreicht und ihn auf den Weg in den weißen Wald geschickt hatte, würde den alten Alchimist eine Menge Ärger erwarten. Lars schlug sich diese Gedanken aus dem Kopf. Würde er sich da drinnen um sowas Gedanken machen, gehörte er auch bald zu denen, die es nicht mehr raus geschafft haben. Er straffte die Schultern und betrat den weißen Wald.

Es war, als würde er gegen eine Wand laufen. Es herrschte eine bedrückende, trockene Hitze, und zusammen mit dem stechenden Weiß des Waldes war es, als wäre Lars in einen Fiebertraum gefallen. Während es vor Keffs Hütte noch windig gewesen war, bewegte sich hier nicht ein Windhauch zwischen den dichten Bäumen hindurch. Es war, als befände er sich in einem riesigen geschlossenen Raum, einer endlosen Bibliothek, die seit einer halben Ewigkeit niemand mehr betreten hatte. Jedes Mal, wenn Lars‘ Stiefel auf dem trockenen Laub aufsetzten, das den kompletten Waldboden bedeckte, zerstäubten Blätter unter seinen Füßen. Er war erst wenige hundert Metern gegangen, als sich eine weiße Staubschicht auf seiner Kleidung bildete. Abgesehen von dem Knistern der Blätter und Äste unter seinen Füßen drang nur Stille an seine Ohren. Kein Vogelzwitschern, kein Rascheln von Tieren im Geäst. Wenn es in diesem Wald tatsächlich Lebewesen gab, so waren sie wesentlich besser als er darin, sich lautlos zu bewegen.

Nach ungefähr einer Stunde – die Sonne konnte er durch das dichte Geäst kaum erkennen – musste Lars erstmals rasten. Seine ledernen Klamotten waren bereits völlig durchgeschwitzt. Erschöpft ließ er sich auf dem Waldboden nieder. Mittlerweile musste er wie ein Geist aussehen, klebte der weiße Staub doch an seinem ganzen Körper. Lars löste den Wasserschlauch, der an seinem Gürtel befestig war, und nahm einen großen Schluck. Erst jetzt, da er zum ersten Mal zur Ruhe kam, seit er den Wald betreten hatte, stellte er fest, dass er sich geirrt hatte: Es herrschte keine völlige Stille zwischen den fahlen, weißen Stämmen. Da war ein Geräusch. Ein permanentes Summen, etwa so wie das Klingeln in den Ohren, das nach einem lauten Knall oder einem Schlag gegen den Kopf noch eine Weile nachwirkt.

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Plötzlich nahm Lars eine Bewegung wahr. Durch die Windstille hatte der Wald bisher wie ein starres Gemälde gewirkt, wodurch das kleine Zucken auf der reglosen Leinwand umso deutlicher hervorstach. Als er genauer hinsah, war, was auch immer sich da soeben bewegt hatte, verschwunden. Lars wischte sich mit der Hand den Schweiß aus Gesicht und Augen und stand auf. Bloß eine Sinnestäuschung, versuchte er sich einzureden, wusste aber gleichzeitig, dass auf seine Augen bis jetzt immer Verlass gewesen war… Ein Blick auf seinen Kompass zeigte ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. „Süden. Immer nach Süden. Keine Abkürzungen, keine Schlenker“, hatte Keff ihn ermahnt. Er sah noch einmal in die Richtung, wo er die Bewegung ausgemacht hatte, dann ging er weiter.

Das Weiß des Waldes schien die Zeit zu fressen. Die Baumkronen waren zu dicht, um zu sehen, wo die Sonne stand, und dunkler wurde es auch nicht. Lars musste mittlerweile immer wieder ausspucken, weil sich der weiße Staub in seiner Kehle sammelte, und aufgrund der enormen Hitze hatte er bereits die Hälfte seiner Wasservorräte getrunken. Sein Atem ging schneller, Panik wollte sich in ihm ausbreiten. Lars atmete tief durch, schob einen weißen Busch zur Seite, dessen Blätter unter seiner Berührung knisternd zerbröselten, und setzte einen Fuß vor den anderen. Aufgeben durfte er nicht. Er könnte jederzeit das Ende des Waldes erreicht haben…

Als Lars das nächste Mal die Bewegung wahrnahm, wusste er sofort, dass es nicht bloße Einbildung war. Denn das, was sich da bewegte, steuerte direkt auf ihn zu. In Schlangenlinien zwar und langsam, aber genau in seine Richtung. Ohne es bemerkt zu haben, war das Summen des Waldes in ein stetes Crescendo übergegangen, das das Knistern der Blätter unter seinen Schuhen übertönte. Nun aber war ein neues Geräusch herauszuhören. Eine Art Murmeln. Als würde jemand versuchen, mit geschlossenem Mund sehr ruhige Worte zu sagen.

Und jetzt kam da dieses Ding zwischen den Bäumen hervor. Völlig weiß und ohne klare Konturen. Ein formloser Körper auf zwei Beinen, die dünn wie Äste waren und sich bewegten, als hätten sie kein Knochengerüst. Beim Anblick des Wesens war Lars wie festgefroren. Als es sich weiter näherte, glühten im oberen Drittel dieses Körpers zwei gelbe Punkte, und das drohende Murmeln verwandelte sich in einen markerschütternden Schrei, den Schrei von jemandem, dem die Lippen zusammengenäht worden waren. Lars wollte nach seiner Axt greifen, aber es fühlte sich an, als wären seine Arme zu Wasser geworden. Als er entsetzt zu seiner rechten Hand hinunterblickte, glaubte er für einige Sekunden zu sehen, wie diese zu schmelzen begann und auf den Waldboden tropfte. Panik übermannte ihn. Er schrie. Lars rannte los, brach durch das weiße Unterholz zu seiner Rechten und schrie noch einmal, als er aus dem Augenwinkel weitere, gelb glühende Punkte zwischen den Bäumen sah.

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Er wusste nicht, wie lange er gerannt war, ob Minuten oder Stunden, als er strauchelte, mit letzter Kraft auf die Knie sackte und sich in einem grauweißen Schwall auf den Waldboden erbrach. Es beutelte ihn, ihm war eiskalt. Verzweifelt lauschte Lars in den Wald hinein. Das Murmeln war verschwunden, das Summen wieder leiser geworden. Ein wenig Hoffnung keimte ihn ihm auf. Vielleicht würde er diesen vermaledeiten Wald doch überleben. Ein Blick auf seinen Kompass genügte und Lars begriff, dass er wohl eine ganze Weile nach Westen gerannt sein musste. Er wusste nicht, woher er den Willen nahm, doch er rappelte sich hoch und wandte sich in Richtung Südosten.

Seine Zunge fühlte sich an, als wäre sie eines der vertrockneten Blätter, deren Knistern ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte, seine Augen brannten und tränten vom Staub, als er wieder Geräusche hörte. Diesmal menschlicher. Menschlicher als alles, was er bisher in diesem Wald vernommen hatte. Er glaubte, Stimmen zu erkennen. Lars beschleunigte seinen Schritt und überwand auf allen Vieren eine steile Anhöhe – dann fiel alle Hoffnung von ihm ab.

Durch das Geäst und die Blätter des Waldes konnte er zwanzig, vielleicht dreißig oder mehr gelbe Lichter sehen. Weit genug entfernt zwar, sodass er durch das Weiß des Waldes keine klaren Umrisse erkennen konnte, aber sie versperrten ihm dennoch den direkten Weg. Ihm war klar, einen weiteren Umweg von mehreren Stunden würde er nicht überleben. Sein Wasser war aufgebraucht und er war endgültig am Ende seiner Kräfte. Neuen Proviant würde er in diesem Wald ebenfalls nicht finden, und selbst wenn es hier einen Bach gäbe, hätte er das Wasser nicht angerührt. „Und trotzdem werde ich ihn erfolgreich durchqueren.“ Seine Worte hallten laut in seinem Kopf wider. Und trotzdem…

Ohne seinen Beinen den Befehl gegeben zu haben, bewegte Lars sich langsam auf die gelben Lichter zu. Sein Körper schien die Kontrolle übernommen zu haben. Er war noch einen kräftigen Steinwurf von den Lichtern entfernt, als er bemerkte, dass das Summen des Waldes inzwischen völlig verstummt war. Die Geräusche, die nun zu ihm durchdrangen, konnten nur menschlichen Ursprungs sein. Menschen sprachen. Riefen. Deuteten. Endlich erkannte Lars die großen eckigen Konturen um die Lichter herum und damit auch das, was sie in Wahrheit waren: Kerzenflackern. Kerzenflackern, das aus offenen Fenstern drang.

Er rannte auf die Gebäude zu.

© – Stephan M. Gert

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Die Kurzgeschichte „Unter der roten Krone: Im weißen Wald“ entstand im Rahmen der novum Verlag Initiative für die Förderung und Inspiration von Schriftstellern über den novum Verlag Blog und die Blogrubrik #Wortwechsel und ist die Fortsetzung von „Unter der roten Krone 1: Der letzte Schwerttanz“. Wir bedanken uns bei Gastautor Stephan M. Gert für seinen wortstarken Beitrag.