„Sina! Wo bist Du denn schon wieder?“ Sie hörte die besorgte Stimme ihres Vaters durch das dichte Laub der Gartenhecke, die, seit Sina denken konnte, ihr Rückzugsort war, wenn die harte Arbeit des Tages erledigt war.

Schneeeule und Sonnenuhr

Die beiden lebten seit Mutters Tod in einer kleinen Holzhütte am Waldrand und während er tagsüber Schüsseln und Töpfe aus erdigem Ton auf dem Markt des nahegelegenen Ortes verkaufte, sorgte das fleißige Mädchen dafür, dass die schäbige Hütte ihnen ein warmes Heim bot. Der Brei für das Abendessen war schon fertig, als ihr Vater mit dem Holzkarren über den ausgewaschenen Feldweg nach Hause rumpelte. Dieses Rumpeln verriet von Weitem, ob sein Tag ertragreich war oder ob es in den nächsten Tagen wieder nur Getreidebrei geben würde. Rasch wurde der Staub aus den Röcken geklopft und das Kind eilte ihrem Vater freudig entgegen. Heute war ihr neunter Geburtstag und Sina freute sich schon den ganzen Tag auf dessen Rückkehr.

Die Schneeeule und die Sonnenuhr


„Hier bin ich, Vater“,
lächelnd standen sie sich gegenüber und der hochgewachsene Mann strich seiner Tochter sanft und voller Stolz über ihr langes, flachsblondes Haar, das in einzelnen Strähnen aus dem locker geflochtenen Zopf rutschte. „Da heute ein ganz besonderer Tag für dich ist, mein Kind, habe ich dir aus dem Ort auch etwas ganz Besonderes mitgebracht. Eine alte Krämerin bot es mir feil und erwähnte, diesem Schatz wohne ein besonderer Zauber inne.“ Lächelnd überreichte er seiner Tochter eine wunderschöne Taschenuhr an einem geflochtenen Band aus feinstem Leinen. Staunend betrachtete Sina die filigrane Verzierung der kleinen Kostbarkeit aus Metall, die in ihrer zittrigen Hand ruhte. Der Vater nahm vorsichtig das Band in seine großen, rauen Hände und legte es sanft um den schmalen Nacken seines Kindes. „Verbirg die Uhr stets unter deiner Kleidung, so wirst Du sie niemals verlieren.“ Gemeinsam schoben sie den Karren die letzten Meter nach Hause. Dort angekommen eilte das Kind nach Tuch und Wasser, damit der Vater seine Hände waschen konnte, bevor das gemeinsame Abendessen eingenommen wurde. Später am Abend, als die Kerzen bereits gelöscht waren, strich das kleine, glückliche Mädchen zärtlich über die Gravur des Metallgehäuses, welches silbern im Mondlicht glänzte.

Wortwechsel


Es war das Bildnis einer majestätischen Eule. Langsam öffnete es den Deckel und stellte erstaunt fest, dass die Uhr keine gewöhnliche Taschenuhr mit Zeigern, Ziffern und tickendem Uhrwerk war. Ein feiner, weißer Strahl reines Mondlicht fiel durch das kleine Fenster auf das Fußende der Bettstatt und gab den Blick auf eine Silhouette frei, die dort ganz ruhig saß, und mit sanften Augen auf Sina hinab blickte. Vorsichtig richtete das Mädchen seine Frage an das fremde Wesen. „Wer bist du?“ „Ich bin die Schneeeule Chou und Hüterin der Sonnenuhr, die sich seit heute in deinem Besitz befindet. Wenn du Lust hast, mich zu begleiten nehme ich dich mit auf eine fantastische Reise.“ Ohne zu zögern nahm Sina auf dem weichen Gefieder Platz und gemeinsam erhoben sich die beiden in die Lüfte, schwebten durch Wälder, über Wiesen und Felder und erreichten bald einen herrlichen Palast, der golden in der Sonne funkelte. An dessen Fuße lag ein ruhiger See. Dort wollten sie rasten, bevor sie den Heimweg antraten. Am Ufer des tiefblauen Wassers vernahm Sina eine zarte Stimme, die offensichtlich um Hilfe bat. Zaghaft wisperte es neben ihr: „Mein Name ist Aki und ich suche meinen Bruder. Wir waren auf dem Weg zum großen Flieder, unserem Zuhause, als ich den Duft dieser wunderbaren Blumen vernahm. Plötzlich schrie Anju, ich solle mich beeilen, doch da war es bereits zu spät. Er fiel hier am Ufer irgendwo zwischen die Kieselsteine und ich bin viel zu klein, um ihn zu finden. Könnt ihr mir bitte helfen?“ Sogleich bot sich Chou an, eine Runde über der besagten Stelle zu kreisen. Und nach einer kurzen Weile wurde sie tatsächlich fündig. Sina eilte zu ihr und hob den ängstlichen Anju behutsam hoch. In Ihren Händen hielt das verblüffte Kind einen winzigen Schmetterling, der sich beim Sturz leicht verletzt hatte. Als Aki auf Sinas Hand landete, um ihren Bruder ordentlich zu rügen, machte Chou den Vorschlag, die beiden zuhause abzusetzen und dann zurück zur Hütte zu fliegen.

Kerstin Beck

Geschrieben von © Kerstin Beck

Das Bild, das sich ihnen bot, war unbeschreiblich. Tausende von Schmetterlingen bevölkerten diesen Fliederbusch, dessen winzige Blüten einen betörenden Duft verbreiteten. Die Nacht war bald vorbei und im Morgengrauen würde der Vater erwachen. Überschwänglich bedankten sich die Schmetterlingskinder bei ihren Rettern, die sich schon bald in die Luft erhoben und Richtung Waldrand glitten. Behutsam tastete Sina nach dem Samen in ihrer Tasche, den sie zur Erinnerung an ihren ersten Ausflug mit Chou eingesteckt hatte. Gerade noch rechtzeitig schlüpfte das kleine Mädchen mit geröteten Wangen unter seine Decke. Und bevor es einschlief, versprach Chou, dass noch viele weitere Abenteuer auf Sina warten würden, jedes Mal, wenn sie den Deckel der Sonnenuhr aufklappte.

Die Märchengeschichte „Die Schneeeule und die Sonnenuhr“ entstand im Rahmen der novum Verlag Initiative für die Förderung und Inspiration von Schriftstellern über den novum Corporate Blog und die Blogrubrik #Wortwechsel. Wir bedanken uns bei Gastautorin Kerstin Beck für ihren inspirierenden Beitrag.

Der nächste #Wortwechsel erscheint am 19. März 2016. Lassen Sie Ihrer Tastatur freien Lauf!