Der Ich-Du-Er-Sie-Test – Auf die Perspektive kommt es an. Für Autoren in spe wirft der Novum Verlag einen Blick auf die verschiedenen Erzählhaltungen.

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„Wer bin ich, wo bin ich und was genau weiß ich eigentlich von meiner Geschichte?“ – Mit diesen Fragen sollten sich Schriftsteller auf der Suche nach der passenden Erzählperspektive befassen. Sind Handlungsstrang, Erzählzeit, -stil und –ort, sowie Personen und geniale Pointen erst einmal geklärt, geht es für viele praktisch schon ans Schreiben. Die Handlung im Kopf, verstrickte Details perfekt vorbereitet und stilistische Höhepunkte so gut wie gesetzt, machen sich Autoren nach einer oft Jahre andauernden Vorbereitung schließlich endlich ans Tippen. Die ersten Sätze fließen schon in die Geschichte, das Grundgerüst wird in die Tastatur geschlagen und endlich ruft die Inspiration die erste Hauptfigur auf die Bühne der Fantasie, da überkommt einen plötzlich eine bis dahin völlig vernachlässigte Frage: „Aus welcher Perspektive erzähle ich meine Geschichte eigentlich?“

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Dabei spielt gerade die Erzählsituation eine nicht zu unterschätzende Rolle, will man Spannung, Emotion, Nähe oder bewusst auch Distanz zum Leser erzeugen. Wer sich die Erzählhaltung seiner Figuren nicht vom ersten Brainstorming an gründlich überlegt, sie beim Skizzieren einzelner Kapitel nicht einmal berücksichtigt, wird spätestens beim Schreiben auf eine unüberwindbare Hürde stoßen. Denn ungeklärte Erzählverhältnisse stiften nicht nur beim Publikum, sondern auch beim Schriftsteller Verwirrung. Spätestens wenn die Gedankenkraft neue Figuren kreiert oder mehrere Jahre im Zeitraffer einer Seite vergehen sollen, stößt selbst der ambitionierteste Autor an seine Grenzen. Denn wie erklärt zum Beispiel der bis auf Seite 72 noch so versierte Ich-Erzähler die komplexe Vorgeschichte einer fiktiven Person, die ihm bis dahin vom Schriftsteller noch gänzlich vorenthalten worden und vollkommen fremd war? Oder wie erfährt der Leser von der Fortsetzungsgeschichte einer Figur, die sich aus dem Drama der Persönlichkeit, aus deren Perspektive die Handlung ausschließlich geschildert wird, geographisch entfernt hat?

Um gar nicht erst auf solche Probleme zu stoßen, die im schlimmsten Fall die Überarbeitung des ganzen Manuskripts, ja aller bis zu diesem Zeitpunkt geschriebenen Seiten bedeuten können, sollte man sich vom ersten schöpferischen Gedanken an mit der präferierten Perspektive befassen. In der Literaturwissenschaft werden grundsätzlich die vier Erzählsituationen nach Franz Karl Stanzel unterschieden. Das Basiswerk des österreichischen Anglisten, „Die Theorie des Erzählens“, gilt Literaturstudenten auf der ganzen Welt als Bibel.

1) Der Allwissende

Der allwissende, oft wie mit göttlicher Allmacht ausgezeichnete Erzähler, schildert die Geschichte aus der auktorialen Erzählsituation. Die Erzählhaltung präsentiert die Protagonisten, die Zusammenhänge zwischen ihnen, ihre Persönlichkeit und ihr Innenleben bis ins kleinste Detail. Die Erzählung wird von der Warte eines unbeteiligten Dritten erzählt, der den Leser nicht nur informieren, sondern auch manipulieren kann. Bewertende Phrasen oder erklärende Kommentare geben Aufschluss über die Persönlichkeitsgeschichte einzelner Charaktere. Außerdem zeichnen Rückblicke oder Andeutungen die Zukunft betreffend ein rundes Bild, das dem Leser stimmig und nachvollziehbar erscheint. Die Schwierigkeit bei der auktorialen Erzählform besteht allerdings darin, den Erzähler nicht mit dem Autor des Werks zu verwechseln. Dies gilt sowohl für den Urheber, als auch für dessen Nutznießer, das breite Lesepublikum. Während der Schriftsteller oft dem Reiz erliegt, den Protagonisten zu persönliche, unlogische bis unstimmige Projektionen aufzudrängen, nährt die auktoriale Perspektive oft den Irrglauben des Lesers, nun auch den Autor genau zu kennen. Und auch der psychologische Tiefgang, der persönlicheren Erzählmodi zu eigen ist, kommt beim allwissenden Erzähler oft zu kurz.

Beispiele: „Kleider machen Leute“ (Gottfried Keller), „Der Sandmann“ (Ernst Theodor Amadeus Hoffmann)

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2) Der Regisseur

Eine weitere Möglichkeit, eine Geschichte vom narrativen Blickwinkel einer dritten Person aus wiederzugeben besteht in der personalen Erzählhaltung. Der Erzähler beleuchtet die Geschichte aus der Perspektive eines Protagonisten heraus. Er- oder Sie-Erzähler beschreiben ausschließlich persönliche Eindrücke von Personen, Schauplätzen und Szenen und erlauben dem Leser damit mehr kreativen Spielraum bei seiner eigenen Einschätzung und Beurteilung der Handlung. In seinem Buch „Wie man einen Fantasy Bestseller schreibt“ bezeichnet Holger de Grandpair die personale Erzählform auch mit der erzählerischen Kamera. Der Er- oder Sie-Erzähler schwenkt in Detailaufnahme oder einer Rundumschau auf die Schauspieler und bildet so seine kommentierte Lebenswelt ab, führt sozusagen Regie. Nachteile treten bei der personalen Erzählform vor allem dann auf, wenn besonders viele Charaktere eine Geschichte schmücken. In diesem Fall wird man der Vielschichtigkeit einzelner Darsteller allenfalls oberflächlich gerecht und erschwert außerdem den Lesefluss, der zunehmend an Nachvollziehbarkeit verliert. Abhilfe kann hier ein einfacher Trick schaffen. Indem man einzelne Kapitel aus der Perspektive eines jeweils anderen Charakters erzählt, kann man die Geschichte aller Hauptfiguren miterleben. Ein Beispiel hierfür ist das Fantasyepos von George Raymond Richard Martin, der „Das Lied von Eis und Feuer“ Kapitel für Kapitel aus der Erlebenswelt eines jeweils anderen Protagonisten wiedergibt und so die schier überwältigende Komplexität des Werks bewältigt.

Beispiele: „Der Prozess“ (Franz Kafka), „Das Lied von Eis und Feuer“ (George R. R. Martin)

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3) Der Distanzierte

Die überspitzte Form der personalen Erzählform tritt in der neutralen Erzählperspektive in Erscheinung. Auch hier kommt die Kamerametapher einem Erklärungsversuch am nächsten. Die Momentaufnahme erfolgt allerdings mehr im Live Modus, das Storyboard präsentiert sich dem Publikum ungefiltert, ungeschnitten, um nicht zu sagen, unzensiert. Leser werden dazu angeregt, sich ihre eigenen Gedanken zu den Charakteren und zum Handlungsverlauf zu machen. Die Kunst besteht darin, die Innenwelt der Protagonisten durch Monologe, Dialoge oder beschreibende Beobachtung offen zu legen und das Publikum so mit figuraler Vertrautheit zu segnen. Der Interpretationsspielraum der Leser steht im Vordergrund. Autoren, die sich für die neutrale Erzählform entscheiden, geben ihre Allmacht als Kreationisten gewissermaßen aus der Hand und legen sie ganz in die Gestaltungskraft ihrer Leserschaft. Vorteil und Nachteil gehen Hand in Hand. Einerseits kann es für einen Autor unheimlich spannend sein, zu beobachten, was sein Zielpublikum aus seiner Geschichte macht. Andererseits verlangt es tief sitzendes Feingefühl und ausgeprägte Menschenkenntnis, um die Figuren trotz zurückhaltender Erzählform nach einem bestimmten Maß zu formen. Vor allem muss sich der Schreiber zu allen Zeiten einer gewissen Distanz bewusst sein, die er dadurch zum Publikum aufbaut. Die geringe emotionale Tiefe, die durch den neutralen Beobachtungsposten unweigerlich entsteht, hält, ob gewollt, oder nicht, auf Abstand. Durch die insgesamt nüchterne Betrachtung steht weniger eine Identifikation mit einzelnen Figuren, als mit einem Kernthema, einer Botschaft, im Vordergrund. Beispiele für die neutrale Erzählform sind Dramen, Dialoge sowie innere Monologe, allerdings zählen auch Berichte und Zeitungsartikel zu dieser Erzählform.

Beispiele: „Effie Briest“ (Theodor Fontane), „Fräulein Else“ (Arthur Schnitzler)

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4) Der Offenherzige

Das Schreiben in der Ich-Perspektive bringt viele Vorteile mit sich, die vor allem Anfängern den Schreibprozess erleichtern. So wird durch die Schilderung einer Geschichte aus der individuellen Wahrnehmung einer Figur mehr Nähe, mehr Emotion, schlichtweg mehr Persönlichkeitsbezug erzeugt. Außerdem weiß der Leser immer nur genau so viel wie die erzählende Figur selbst, was den Aufbau eines Spannungsbogens mit sich bringt. „Mit jedem Schritt, den die Figur unternimmt, hellt sich der Sichtbereich allerdings ein wenig weiter auf (was auch den Prozessen im realen Leben entspricht“, unterstreicht schon Holger de Grandpair die Vorzüge dieser sehr offenherzigen Erzählvariante. Außerdem lässt die Perspektive aus der ersten Person auch einigen Gestaltungsspielraum zu. Anfänger können die Schwierigkeit, die facettenreiche, tief sitzende psychologische Bandbreite eine Figur exakt nachzuzeichnen, geschickt umgehen, indem sie die Ich-Erzähler-Perspektive als Perspektive der dritten Person tarnen. Dieser Trick von Grandpair führt dazu, dass man zwar die gesamte Handlung aus der Sicht einer Person wiedergibt, dabei aber nicht ihre komplette Innenwelt, ihr Gefühlsleben und Erleben konstruieren und zu jeder Zeit nachvollziehbar gestalten muss. Dieser Variante soll sich laut Stephanie Kurczyk übrigens einst schon Cicero bei seiner Autobiographie bedient haben, um sich selbst und seine Person episch, aber nicht zu persönlich, figural in der Römischen Geschichte zu platzieren.

Eine weitere Variante besteht darin, eine Neben- statt einer Hauptfigur die Geschichte erzählen zu lassen. Vorteile wie Rückblenden oder ein größerer Blickwinkel auf die Handlung sprechen für diese Form der ichbezogenen Fremdbeobachtung. Der Nachteil resultiert in der eingeschränkten Sichtweise des egozentrischen Erzählformats. Größere Gesamtgefüge oder komplexe Handlungsstränge, die sich zeitlich wie örtlich entfernt zutragen können nicht wiedergegeben werden. Vorsicht ist auch geboten, wenn der Erzähler der Geschichte Sachverhalte wiedergibt, von denen er der Allgemeinvernunft folgend gar nichts wissen kann.

Beispiele: „In einem andern Land“, (Ernest Hemingway)

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Welche Perspektive die perfekte ist, um eine Geschichte zu erzählen, erschließt sich so manchem Schriftsteller aber mitunter auch erst während des Schreibens. Es kann durchaus vorkommen, dass man erst im fortgeschrittenen Prozess bemerkt, dass man sich für die falsche Erzählperspektive entschieden hat. Etwa, wenn die Grenzen des eigenen Ichs einer Figur nicht mehr ausreichen, um der Komplexität der Geschichte gerecht zu werden. Auch, wem es partout nicht gelingen will, Gefühl zu erzeugen, sollte von der neutralen vielleicht auf eine personale Erzählform wechseln. Wichtig ist letzten Ende nur, dass man sich nicht entmutigen lässt und den Willen aufbringt, seine Story zu überarbeiten. Im Zweifelsfall sollte man vielleicht die Perspektive von Ernest Hemingway einnehmen, der es einst so schön und treffend auf den Punkt brachte: „Die erste Fassung ist immer Mist“

Euer Novum Verlag,

„Lasst Eurer Tastatur freien Lauf“